© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Verdruß vor dem Tunnel
Illegale Einwanderung: Täglich versuchen Immigranten, von Calais nach England zu gelangen / Spediteure und Fahrer fühlen sich alleingelassen
Hinrich Rohbohm

Wir werden alleingelassen“, sagt Said. Immer wieder betont er das. Der Rheinländer mit arabischen Wurzeln lehnt einen Arm aus seinem Lastwagen und blickt auf einen der unzähligen mit Stacheldraht versehenen Zäune, die das Hafengebiet sowie Autobahnen und Parkplätze in und um Calais abriegeln. Seit zwanzig Jahren ist er als Fernfahrer beruflich unterwegs; davon seit drei Jahren auf jener Strecke, die ihn über Calais nach England führt und die in den vergangenen Wochen und Monaten für Schlagzeilen sorgte, als Hunderte von Immigranten die Autobahnen stürmten und versuchten, auf Lkws zu klettern. Angetrieben vom Willen, die scharfen Kontrollen vor dem Eurotunnel ungesehen zu überwinden und Großbritannien zu erreichen.

„Schuld daran sind für mich nicht die Illegalen, sondern die Streiks sowie die Fähr- und Tunnelbetreiber“, erzählt Said. Angefangen hatte alles vor knapp drei Monaten, als Mitarbeiter des Fährunternehmens My Ferry Link aus Protest gegen den geplanten Verkauf ihrer Fähren protestierten. Sie streikten, blockierten Hafen und Eurotunnel-Eingang mit angezündeten Autoreifen. Die Auswirkungen waren verheerend. Bis zu 90 Kilometer stauten sich die Laster auf den Autobahnen. Die Fahrer saßen bei sengender Sonne und Temperaturen von mehr als 30 Grad fest. Und die Immigranten nutzten die Gelegenheit, um in Scharen die Straßen zu stürmen und auf die Fahrzeuge zu klettern.

„Daß die Illegalen nach England wollen, ist eigentlich nichts Neues. Das geht doch schon seit Jahren so“, verrät der Trucker. „Wenn da Streiks sind, dann muß es doch möglich sein, daß kurzfristig Ersatzfähren organisiert werden. Es gibt doch noch mehr Betreiber.“ Zudem sei es für ihn nicht nachvollziehbar, daß ausgerechnet an solchen Tagen auch noch „aus heiterem Himmel“ Tunnelinspektionen stattfänden, die das Problem zusätzlich verschärften.

„Die fahren den platt,  dann ist es vorbei“

Die französischen Behörden reagierten, bauten Zäune um die Autobahnen, sperrten Parkplätze und Raststätten. Said hält einen weißen DIN-A4-Zettel aus dem Wagenfenster. Es ist eine Kontrolliste für die Fahrt nach Großbritannien. „Ich habe die Vorschriften von meinem Unternehmen erhalten und verstanden, daß ich das Fahrzeug sichern muß und die Überprüfungen gemäß den Verfahrensregeln der Einwanderungsbehörde zur Vorbeugung der Einreise von illegalen Einwanderern ausführen und dies durch das Ausfüllen der folgenden Checkliste belegen muß“, steht da.

Die Fahrer sollen darauf achten, ein Hängeschloß anzubringen. Sie sollen den Auflieger überprüfen, ihn verplomben, Nummer von Plombe und Schloß in die Frachtpapiere eintragen, den Innenraum von Auflieger und Zugmaschine sowie die Karosserie überprüfen, Stauräume, Nischen, Werkzeugkästen und Windabweiser kontrollieren. Und das gleich mehrmals: nach dem Beladen, nach Zwischenstopps, vor dem Tunnel oder der Fähre. Dokumentiert mit Datum und Uhrzeit, bestätigt durch einen Dritten. „Aber es ist nicht immer ein Dritter da, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst zu bestätigen“, meint der Kölner genervt.

Werden die Vorgaben der Liste nicht eingehalten und entdecken die britischen Behörden Immigranten im Lkw, müssen die Fahrer mit einer Geldstrafe von 2.000 Pfund rechnen – pro illegalem Einwanderer. „Irgendwas finden die immer. Da braucht ja nur mal irgendwo kein Schloß dran sein und schon bist du dran.“ Said erzählt von Kollegen, die angehalten worden waren und auf deren Laster die Gendarmen illegale Zuwanderer entdeckt hatten. „Die Fahrer wurden dann gleich erst mal in Untersuchungshaft genommen, mit Verdacht auf Schleuserkriminalität.“

Für die Trucker ist es ein Dilemma. „Einerseits sollen wir nicht anhalten, damit keine Illegalen auf den Wagen kommen. Andererseits schreibt uns der Gesetzgeber aber Pausen vor“, erklärt Said. Er ist aus seinem Fahrerhaus ausgestiegen, zeigt der JUNGEN FREIHEIT die Stellen unter dem Lkw, an denen sich Immigranten verstecken. „Die gehen hier rein und halten sich hier dann irgendwie am Rahmen und an den Achsen fest.“ Nicht alle blinden Passagiere können das durchhalten; dann fallen sie während der Fahrt auf die Straße. „Wir merken das ja nicht. Die fahren den platt, und dann ist es vorbei.“

Nachts könne er hören, wie sich Migranten seinem parkenden Gefährt nähern. Angst habe er nicht. „Ich weiß ja, was die wollen. Die wollen nichts klauen, die wollen einfach nur rüber nach England.“ Manchmal gebe er ihnen etwas Wasser. Die Tür zum Frachtraum läßt er wie die meisten seiner Kollegen nachts offen. „Dann sehen sie gleich, wenn ich nichts geladen habe und fummeln mir nicht an der Tür herum.“ Der Grund für die Maßnahme: Öffnen die Immigranten, wird die Tür von ihnen nicht gesichert. „Dann pendelt sie nachts unkontrolliert hin- und her, und andere Wagen könnten damit kollidieren.“

„Der Wahnsinn läuft hier Tag und Nacht“

So mancher seiner Kollegen werde aggressiv, fürchtet um Fracht und Fahrzeug. „Ich sage denen immer, die machen dir nichts kaputt, die wollen sich nur verstecken.“ Aber oftmals werde eben auch Ware dadurch beschädigt. „Dann stehen die als Fahrer da, machen auf, und die Ware ist kaputtgetreten. Oder die Illegalen haben da was davon gegessen. Erklär das mal dem Chef.“

Aufgerissene Produkte würden von den belieferten Unternehmen nicht mehr angenommen. Doch was Said am meisten nervt, ist der Zeitverlust. „Durch die Staus schaffen wir es nicht, unsere Rückladung mitzunehmen, und uns geht Geld verloren.“ Habe sein Unternehmen die Rückladung zugesagt, werde es dazu noch in Regreß genommen.

Spediteure hatten bereits zum Protest aufgerufen. Zwei Wochen lang sollte keine Ware transportiert werden. Das Unterfangen scheiterte. Transportverbände hatten die mißliche Lage der Lkw-Fahrer moniert. Ihr Ruf blieb ungehört. „Die Politik tut gar nichts. Und wenn ich dann die dummen Sprüche von denen bei uns höre“, redet sich Said seinen Frust von der Seele. Sein Lastwagen steht in der Nähe des Hafens, knapp einen Kilometer entfernt vom sogenannten Dschungelcamp. Ein Ort, an dem sich rund 3.000 illegale Immigranten mit Holzbalken, Planen und Zelten ihr eigenes Dorf erschaffen haben. Einige der Unterstände dienen als Ladengeschäft, in denen Getränke, Knabberzeug und Lebensmittelkonserven verkauft werden. Eine Ärzteorganisation hat in dem „Dorf“ einige Zelte aufgebaut, sorgt für die medizinische Betreuung. Sogar eine Kirche und eine Moschee haben die Bewohner gebaut. Die französischen Behörden lassen sie gewähren, müssen auf diese Weise selbst nicht für eine kostenintensive Unterbringung sorgen. Immer wieder kommen Autos in das Camp gefahren. Es sind Angehörige von Hilfsorganisationen. Andere kommen auf private Initiative, bringen den Bewohnern Lebensmittel vorbei.

Eine der Helferinnen ist Maya, eine ältere Frau mit geflochtenem Zopf. Unter den Immigranten gilt sie als der blonde Engel des Camps, weil sie sie unentwegt mit Material versorgt. Sie hat schwarze Planen mitgebracht, ein begehrtes Material. Schnell bildet sich eine Menschentraube um die Frau, die bereits einen Teil der Plane abgerollt hat und mit einem Messer versucht, sie in gleich große Teile zu schneiden. Tumult bricht aus, Streitereien um die Planen. „Schluß jetzt, oder keiner kriegt mehr was“, ruft Maya energisch. Das wirkt. Die Zuwanderer, die die Frau „Mama“ nennen, parieren. Ansonsten ist die Stimmung in dem „Dorf“ gelassen. Junge Männer spielen Fußball, Frauen hängen Wäsche auf, andere sitzen entspannt vor ihren Zelten, lassen sich zumeist auch fotografieren.

Deutlich angespannter ist die Stimmung unter jenen, die sich zu Hunderten Tag für Tag aufmachen, um den acht Kilometer langen Weg vom Dschungelcamp durch die Innenstadt von Calais hin zum Eurotunnel zurückzulegen, wo sie immer wieder auf eine günstige Gelegenheit warten, nach England zu gelangen. Auf Fotografieren reagieren hier nicht wenige aggressiv. Ein Afrikaner hat beim Anblick unserer Fotokamera einen faustgroßen Stein erhoben, droht damit, zu werfen. Wir können die Situation deeskalieren, der Stein fliegt nicht. Doch der zornige Gesichtsausdruck des Mannes bleibt. Auch er macht sich mit einer Gruppe weiterer Männer auf Richtung Eurotunnel.

Doch nur sehr wenige schaffen es, die Kontrollen zu überwinden. Najaz, ein junger Afghane, lebt seit mehreren Monaten im Camp. Jetzt will er wieder zurück nach Paris, wo die Lebensbedingungen für ihn besser seien, wie er sagt. Er war in der Hoffnung gekommen, von Calais nach England zu gehen, um dort zu arbeiten, er habe Verwandte dort, und die englische Sprache sei leichter als Deutsch oder Französisch. „Aber es ist einfach zu schwierig, rüberzukommen.“ 

Abed, ein Sudanese, sieht das anders. „Es gibt drei Wege“, verrät er der JF. Der eine sei, die fahrenden Lastwagen auf den Autobahnen zu erklimmen. „Sehr gefährlich“, sagt Abed. Der andere sei, über die Zäune zu klettern und sich in einem Lkw auf einem Parkplatz zu verstecken. Er bestätigt: Im Camp halten sich auch Schleuser auf, die für den richtigen Moment sorgen würden, um ungesehen zu den videoüberwachten Plätzen zu gelangen. Einige Zäune seien nicht so hoch, da könne man drüberklettern. Er zeigt seine Jacke, die er über den Stacheldraht legen will, um sich nicht zu verletzen. Der dritte Weg führe über die Bahnschienen, wo die Immigranten versuchen, sich auf den Güterwaggons zu verstecken. Die Polizei kennt die Verstecke. Sie ist dennoch oftmals überfordert. Zu viele strömen in die Nähe des Eurotunnels. Schnell wird klar: Die Streiks der vergangenen Monate hatten die Zuwandererströme von Calais nur verstärkt. Doch schon Jahre zuvor und auch jetzt versuchen zumeist Afrikaner Tag für Tag, den Eurotunnel zu passieren. 

„Der Wahnsinn läuft hier Tag und Nacht“, bestätigt auch ein Gendarm, der mit seiner Einsatzgruppe gerade ein Dutzend Afrikaner im Gebüsch nahe einer Autobahnböschung festgenommen hat. Fotografieren dürfen wir die Aktion ebensowenig wie die Einsatzwagen der Gendarmerie, die sich an den Auf- und Abfahrtstraßen zur Autobahn postiert haben und nach Immigranten Ausschau halten.

Als illegale Zuwanderer vor gut einem Jahr versucht hatten, den Hafen zu stürmen, um auf die Fähren zu gelangen, hatten die französischen Behörden die Sicherheitsvorkehrungen noch weiter ausgebaut. Bis zu fünf Meter hohe Zäune mit Nato-Draht sichern nun die Hafen- und Industrieanlagen der Umgebung. Schilder warnen vor Lebensgefahr, nicht zuletzt wegen der Hochspannungsleitungen an den Bahnanlagen. Vor dem Eurotunnel erfolgen die Kontrollen mit Hunden und mit Scannern. Und dennoch muß es einigen gelungen sein, durchzukommen. „Mein Bruder hat es geschafft“, behauptet Abed. Wie genau, will er nicht verraten. Nur daß Schleuser geholfen haben, gibt er mit einem verschmitzten Grinsen zu.

Unterdessen zeichnen sich im Zwielicht der Abenddämmerung die Silhouetten Dutzender Immigranten auf den Gleisen zwischen den Güterwaggons ab. Als wir einen von ihnen fotografieren wollen, greift auch er drohend nach einem Stein. Eine Gruppe Polizisten steht nur wenige hundert Meter weiter entfernt, beobachtet das Geschehen. Anstalten einzugreifen, machen sie nicht. Sie wissen: die Immigranten müssen noch durch den Kontrollposten. Der Punkt, an dem alle scheitern. Fast alle.