© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Berlin und die Jahrhundertkrise
Grenzöffnung: Unter den politischen Akteuren in der Hauptstadt wächst das Gefühl, dem Zuzug der Asylbewerber hilflos ausgeliefert zu sein
Paul Rosen

Aufgeregt bedrängen sich die Chauffeure mit ihren Luxuslimousinen vor dem Reichstagsgebäude. Die Nervosität der Passagiere – Minister, Staatssekretäre, Abgeordnete – hat sich auf die Fahrer übertragen. Schwere Fahrzeuge mit aufgesetztem Blaulicht fahren zügig vor, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hastet zu einer Sitzung in das Gebäude, auf dessen Westseite der Schriftzug „Dem deutschen Volke“ prangt. Dieses deutsche Volk ist im beginnenden Herbst 2015 der vermutlich größten Zuwanderungswelle von Ausländern ausgesetzt, ohne daß die Politiker diesem erklären würden, wie es damit auf Dauer zurechtkommen soll.  

Der Nachkriegswohlstand scheint in Gefahr 

Etwa 800.000 Asylbewerber werden in diesem Jahr auf dem Gebiet der Bundesrepublik erwartet. Mindestens. Europäische Verträge, die die Aufnahme von Flüchtlingen in den jeweiligen Ländern regeln, wo sie zuerst das Gebiet der EU betreten, sind das Papier nicht mehr wert, auf dem sie geschrieben wurden. Nachdem der Maastricht-Vertrag  gebrochen wurde, war der Bruch der Dublin-Vereinbarung nur konsequent. Am vergangenen Wochenende kamen 15.000 Asylbewerber allein auf dem Münchner Hauptbahnhof an – von anderen europäischen Regierungen mit Sonderzügen nach Deutschland verfrachtet. Merkel sprach von einem „bewegenden, teilweise atemberaubenden Wochenende“. Die Presse war begeistert: „Das große Willkommen“ würdigte die Süddeutsche Zeitung, und die Berliner Morgenpost fand sich gar in einem „Sommernachtstraum“ wieder. 

In anderen europäischen Hauptstädten werden die Dinge wesentlich nüchterner gesehen als im zuwanderungseuphorischen Deutschland. Frankreichs Präsident François Hollande kündigte die Aufnahme von 24.000 Flüchtlingen an – so viele kamen in Deutschland an zwei Tagen an. Und der britische Premier David Cameron will 15.000 Flüchtlinge aufnehmen – in den nächsten fünf Jahren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bastelt an Verteilungsschlüsseln, die an die Regelungen zur Milchquote erinnern und nur beweisen, daß die EU eine Schönwetterveranstaltung ist, die bestenfalls das Geld anderer Leute verteilen, aber nicht Probleme lösen und Konflikte beilegen kann.  

Daß in Europa Achsen brechen und Fundamente bersten, spüren in Berlin selbst Hinterbänkler im Bundestag. Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ahnt dies auch: „Keiner kann erwarten, daß Europa sich so weiterentwickelt wie bisher, wenn wir das hier nicht gemeinsam schultern“, sagte er in ungewöhnlicher Deutlichkeit. Andererseits hält er die Aufnahme von 500.000 Ausländern in Deutschland jährlich für verkraftbar. 

Die Abgeordneten spüren, daß ihnen wieder blitzschnelle Entscheidungen und ein Ja zu sechs bis zehn Milliarden Euro Mehrausgaben pro Jahr abverlangt werden – wie bei der Euro- und Griechenland-Rettung. Und viele von ihnen ahnen bereits, daß Konzepte wie die Umstellung der Zahlungen an Flüchtlinge auf Sachleistungen und die Beschleunigung der Asylverfahren nichts bringen werden, weil es schon mehrfach probierte Rezepte der Vergangenheit sind, die nichts weiter als den schalen Geschmack der Wirkungslosigkeit hinterlassen haben. Balkanländer wie Albanien und der Kosovo sollen zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden, in die Flüchtlinge schnell abgeschoben werden können. Daß aus dem Kosovo überhaupt Flüchtlinge kommen, verwundert: Das kleine Land erhielt bisher 5,5 Milliarden Euro europäische Wirtschaftshilfe und wird von 15.000 Nato-Soldaten gesichert. Es müßte sich um eine Oase des Wohlstands und der Sicherheit handeln, aber trotzdem reisen Zehntausende aus. Wirkungsvolle Maßnahmen, etwa das Sichern aller Grenzen in Europa und Rückkehr zu den früher üblichen Kontrollen sowie die Absicherung der afrikanischen Gegenküste, stehen auf keiner Agenda, nicht einmal auf der der CSU, die früher wenigstens noch durch markige Sprüche („Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“) auffiel, auch wenn nie Taten folgten. Statt dessen sagte der bayerische Finanzminister Markus Söder im Gillamoos-Bierzelt: „Wir helfen gerne.“

Aber wie schon bei der Euro- und Griechenland-Rettung beschleicht viele Abgeordnete das Gefühl, hilf- und kraftlos in einen Strudel europäischer Veränderungen geraten zu sein, der den Veränderungen des Jahres 1989 in nichts nachsteht, ja sie wahrscheinlich noch übertrifft. Der von den Nachkriegsgenerationen geschaffene Wohlstand wird durch eine alle Maßstäbe übertreffende und alle Begrenzungen sprengende Euro-Rettungs- und Migrationspolitik aufs Spiel gesetzt.

Währenddessen kochen die Nachbarn Deutschlands ihr eigenes Süppchen, in dem die Zutat europäische Solidarität fehlt, weil sie ihnen die Mahlzeit versalzen würde, wie in Berlin geklagt wird. „Das Bild, das ‘Euro-pa‘ im Moment liefert, ist abermals eines der Zerrissenheit“, konstatierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung und fürchtet, „irgendwann wird dieser Riß nicht mehr zu kitten sein.“ Dabei scheint dieser Riß längst da zu sein, und könnte Europa zerreißen, das glaubte, vor einem Vierteljahrhundert seinen endgültigen Frieden gefunden zu haben. Ein Irrtum. Nicht wenige Beobachter in Berlin sehen das Land bereits vor einer Jahrhundertkrise. Das ahnen selbst die Berliner Droschkenfahrer.