© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Die Nerven liegen blank
Choreographie der Gleichschaltung: Zur Bürgerkriegsrhetorik von Politikern und Journalisten
Thorsten Hinz

Die Tollheiten im Tollhaus Bundesrepublik erfahren in immer kürzeren Abständen eine Steigerung. Jetzt schlagen Politiker und Journalisten wild um sich und werfen mit Lehm: „Pack“, „rechter Mob“, „braune Haufen“, „Dreckwind“, „entfesselte Kleinbürger“, tönt es aus allen Medien. SPD-Chef Sigmar Gabriel gab den Startschuß, als er Gefängnis für das „Pack“ verlangte. Vordergründig richtete der Wutausbruch sich an die Adresse von Gewalttätern, doch mit ihm begann ein Flächenbombardement gegen alle, die sich ihre Lebenswelt nicht von absehbaren Millionen Armutseinwanderern umpflügen lassen wollen.

Die Medien leisteten Artikulations- und Schützenhilfe: „Der randalierenden Minderheit muß im Zweifel mit der Härte des Rechtsstaates beigebracht werden, wie sich moderne, tolerante Patrioten eine bunte Republik vorstellen.“ Dieser Satz aus der Springer-Presse vereint in vollendeter Weise das Dummdeutsch des politisierenden Schnösels mit der Gesinnung des Büttels.

Den vorläufigen Höhe- respektive Tiefpunkt markiert der Begriff „Menschenekel“, den ein früherer Bravo-Chef, der neuerdings das Onlineportal des Stern leitet, in die Runde warf. Was mag der Halbstarkenjargon wohl bewirken? Genau – noch mehr Journalisten-Ekel! Sogenannte Promis – Schauspieler, Comedians, Musiker – verstärken den Chor der Erregten, wobei das Diminutiv „Promi“ bereits den Hinweis enthält, daß es sich nicht um wirkliche Prominente, geschweige denn um Stars handelt, sondern um abhängige Kulturbetriebsnudeln.  

Wir erleben eine Choreographie der Gleichschaltung. Beinahe sämtliche Zeitungen, Zeitschriften und Sender scheinen einer informellen Zentralredaktion zu gehorchen, die sich mit dem Pressestab der Bundesregierung abstimmt. Die Beschimpfungen und Skandalisierungen summieren sich zu einer Bürgerkriegsrhetorik, zu einem Psycho-Krieg von oben. Es handelt sich um einen asymmetrischen Krieg, denn wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe. Es ist ein Unterschied, ob autistische Netzpöbler und emotionalisierte Demonstranten sich unflätig verbreiten oder ob Politiker mit der Wucht der Staatsautorität und Journalisten mit hunderttausendfachen  Multiplikationseffekten sich der Fäkalsprache bedienen. Für die kriegerische Stoßrichtung spricht auch die fortschreitende Verbunkerung der politisch-medialen Klasse. Kommentarfunktionen werden abgeschaltet; die meisten Vor-Ort-Besuche von Politikern und öffentliche Diskussionen sind reine Inszenierungen und erinnern an die Praxis der realsozialistischen Nomenklatura.

Das Gesindel existiert tatsächlich: auf der Rechten, auf der Linken, in der Mitte, und mancher rechte, linke, mittige „Dreckwind“ ist leider gewalttätig oder gewaltaffin. Doch sein Erscheinen ist ein sekundäres Problem, der primäre innenpolitische Konflikt ist ein ganz anderer: Diejenigen, die von den Bürgern heute strikte Rechtskonformität verlangen, haben in der Frage der Massenzuwanderung einen Zustand vollständiger Anomie – Gesetzlosigkeit – herbeigeführt: durch Unterlassung, Versagen oder Vorsatz. Nun verlangen sie von den Bürgern, die katastrophalen Konsequenzen ihres politischen Versagens zu übernehmen, wogegen diese sich natürlich wehren. Da die geeigneten Kanäle, auf die in den Lehrbüchern der Demokratie verwiesen wird, zumeist verstopft oder klammheimlich stillgelegt worden sind, bleibt ihnen nur die Protestform der Demonstration, von der sich auch Trittbrettfahrer und Provokateure eingeladen fühlen.

Die Sudelsprache der Politiker und Journalisten ist ein Zeichen dafür, daß sie sich nicht mehr verständlich machen können und nicht mehr wirklich weiterwissen. Ihre gewohnte Welt kommt ihnen abhanden, die Lage entgleitet ihrer Begrifflichkeit und ihrer Handlungs- und Lösungskompetenz. Ihre Nerven liegen blank, ihr zivilisatorischer Firnis blättert ab.

„Wir sind das Pack!“, haben sächsische Demonstranten beim Erscheinen der Kanzlerin gerufen. Sie spielten auf den Ruf von 1989 „Wir sind das Volk!“ an und gingen auf der Spur des amerikanischen Lyrikers Carl Sandburg über ihn hinaus: „I am the people – the mob – the crowd – the mass“ (Ich bin das Volk – der Mob – das Pack – die Masse). Politisch betrachtet, handelt sich um die Aufkündigung eines Vertrages. Weil die politisch-mediale Klasse nicht willens oder fähig ist, die Interessen der Demonstranten zu formulieren und zu schützen, schulden diese ihr auch keine Loyalität mehr. Ihr abschätziges Werturteil kann ihnen gleichgültig sein, weil es lediglich einen Interessengegensatz ausdrückt. In einem Gedicht von Bertolt Brecht emanzipiert das lyrische Ich sich von der Obrigkeit, die ihn glauben machen will, daß der Regen von unten nach oben fließt: „Das Wort wird nicht gefunden / Das uns beide jemals vereint: / Der Regen fließt von oben nach unten / Und du bist mein Klassenfeind.“ 

Jedoch bilden Politiker und Journalisten keine Klasse, sondern eine funktionale und soziale Schicht. Auch treten sie aktuell in Deutschland weniger als tatkräftige Entscheider und scharfblickende Meinungsführer hervor, sondern wirken wie die Repräsentanten beziehungsweise Claqueure der Ohnmacht. In dem Zusammenhang ist die Nachricht interessant, US-Präsident Obama habe in einem Telefonat mit der Kanzlerin ihre Führungsrolle beim Umgang mit der Flüchtlingskrise gelobt und sich anerkennend über die Entscheidung geäußert, syrischen Flüchtlingen Zuflucht in Deutschland zu gewähren. Die unkommentiert durch die Medien gegangene Meldung läßt Rückschlüsse auf die tatsächlichen Entscheidungsstrukturen, Machtverhältnisse und Kommunikationsflüsse zu.

Auch die Aussage der Kanzlerin, es gebe keine Toleranz gegenüber denen, die nicht bereit sind zu helfen, wo rechtlich und menschlich Hilfe geboten sei, ist in diesem Lichte zu sehen. Was die Lage gebietet, ist schließlich eine Auslegungs- und Ermessensfrage und letztlich eine politische Entscheidung. Die aber ist den deutschen Politikern aus den Händen genommen. So spiegelt sich in der aktuellen Bürgerkriegsrhetorik seiner Funktionseliten die Tragik eines Staates wider, der sich in seiner Ohnmacht gegen das eigene Volk wendet.

Foto: Demonstranten am 26. August im sächsischen Heidenau (mit montiertem Schild) während des Besuchs von Bundeskanzlerin Merkel