© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/15 / 04. September 2015

Pankraz,
L. Klages und der Ärger über die Zeit

Die Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Vor hundert Jahren, als Einstein seine Relativitätstheorie entwickelte, posierte sie stolz als vierte Dimension des sogenannten Raum-Zeit-Kontinuums, und in der Politik schwärmte man allerseits von der „neuen Zeit“, die jetzt anbreche und die die Menschheit, so oder so, „herrlichen Zeiten“ entgegenführen werde. Heute wimmelt es in der theoretischen Physik von allen möglichen Dimensionen, kaum jemand interessiert sich noch dafür, und in der Politik spricht man, wenn überhaupt, nur noch von harten, allerhärtesten Zeiten, die auf uns zukommen.

Zwei neue Publikationen sind dafür typisch: Marc Wittmanns „Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens“ (Verlag C.H. Beck) und Rüdiger Safranskis „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ (Hanser). In beiden Büchern kommt die  (an sich doch so interessante, ja aufregende) mathematisch-physikalische Seite der Angelegenheit kaum noch vor, und im Psychologischen gibt es nicht die Spur mehr von der einstigen Zeitbegeisterung, stattdessen viel Angst vor der Zeit – und gähnende Langeweile, wenn sie uns einmal, etwa beim Warten in einem Vorzimmer, ungefiltert, gleichsam persönlich, entgegentritt.

In diesem Fall hilft angeblich, sie „totzuschlagen“. Die Redewendung „Die Zeit totschlagen“ ist geradezu zum Mantra der Moderne für den Umgang mit der Zeit geworden. In ihm spiegelt sich Seinsvergessenheit, die Gier nach Unwichtigem, nach „Entertainment“, bloßer Unterhaltung. In der Massenunterhaltung, zum ersten Mal im Zirkus des alten Rom, heute im modernen Unterhaltungsbetrieb speziell der elektronischen Medien, ist die Zeit nur noch ein Monstrum, vor dem man ausreißt, und sei es mit Hilfe schlimmster Gewaltszenen, „Sex & Crime“ ohne jede sublimierende Verpackung.


Man reißt vor der Zeit aus oder will sie am liebsten gleich totschlagen, weil sie sich selber als unstillbarer Totmacher gebärdet. Ihr Zahn nagt an allem, was uns lieb und teuer ist. Zwar gibt es den Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“, aber sie heilt sie nur, um den Geheilten am Ende in toto zu verschlingen. Heidegger hatte recht:  sie ist für das Leben eine Krankheit, die endgültige Krankheit, die „Krankheit zum Tode“. Oder, in den bündigen Worten des jüngeren Philosophen und Physikers Norman Sieroka von der ETH Zürich: „Die Zeit ist das, was vergeht.“

Anspruchsvollere Geister, die mit Totschlagen oder Ausreißen nichts am Hut haben, wollen sie deshalb wenigstens „anhalten“. Goethes „Faust“ dreht sich im Grunde von vorn bis hinten um nichts anderes als um den Versuch, die Zeit anzuhalten, sie in den emphatisch „gelebten Augenblick“ zu verwandeln und diesen zu verewigen. „Dürft ich zum Augenblicke sagen: /Verweile doch, du bist so schön!“ – dieses Sehnsuchtsmotiv durchzieht nicht nur den „Faust“, sondern unüberlesbar auch die übrigen Werke Goethes und die seiner Zunftgenossen.

Schwester der Dichter ist nicht die Zeit, aber ihr Bruder ist der gelebte Augenblick. Und er braucht Raum um sich herum, ideale Landschaft, geliebte Bilder, Gleichklang zwischen innen und außen. Was Pankraz erstaunt, ist der Umstand, daß in den neuen Publikationen der Raum, also das Bündel der übrigen Seinsdimensionen neben der Zeit, faktisch gänzlich unerörtert bleibt. Dabei läßt sich doch gar nicht übersehen: je mehr die Zeit im öffentlichen Bewußtsein abgewertet wurde, um so mehr stieg das Ansehen des Raums, der Respekt vor ihm, die Begeisterung für räumliche Exkursionen und Freuden.

Tourismus und Fernsehen bedienen den Trend üppig, indem sie auch noch die fernsten Raumwinkel ausführlich begehen und abfotografieren. Es ist ein richtiger Dauerkrieg zwischen „Raumverbrauchern“ und „Raumpflegern“ entstanden. Die Berufssparte der letzteren wächst rapide, womit nicht etwa nur Reinemachkräfte alten Stils gemeint sind, sondern in erster Linie „Ranger“, professionelle Aufseher in Naturparks oder sonstigen privilegierten Räumen, wichtige Leute.


In der Politik spricht man von der Wiederkehr der Geopolitik, wozu nicht zuletzt die Erfahrungen der Menschen im inzwischen zusammengebrochenen Ostblock beigetragen haben mögen. Dort wurde der Raum ja im Namen der Zeit regelrecht vergewaltigt. Ganze Völker, die angeblich nicht in die „neue Zeit“ paßten, wurden vertrieben und vernichtet, ihre in Jahrhunderten gewachsene, durch räumliche Bedingungen tief beeinflußte Kultur wurde durch „zeitgemäße“, oft überhaupt nicht funktionable Blechwelten ersetzt. Solche Erfahrungen prägen sich tief in die Erinnerung ein.

„Die Zeit trennt, der Raum eint“, konstatierte der österreichische Phänomenologe und Raum-Zeit-Forscher Robert Reininger in seiner „Metaphysik der Wirklichkeit“ von 1931. Er hatte recht, sofern er sich auf das jeweils aktuelle Lebensgefühl des Menschen bezog; in diesem Gefühl stehen sich Raum und Zeit schroff gegenüber, und wir bergen uns spontan in der Beuge des Raums vor dem Zahn der Zeit. Hinzuzufügen wäre aber: In der Dimension der Erinnerung ist das anders. Im Bild des Gewesenen liegen Raum und Zeit eng beieinander, genau wie es die physikalische Lehre vom Raum-Zeit-Kontinuum nahelegt. 

Das hierzu fällige Schlüsselwort heißt „Vergangenheit“. Die Zukunft, meinte einst Ludwig Klages, sei „keine Eigenschaft der wirklichen Zeit“. Unser primäres und konkretes Zeitgefühl richte sich auf real Seiendes und mithin Vergangenes; reale Zeit sei lebendiges Gespräch der Gegenwart mit Gestalten der Vergangenheit. Erst der dauernd mit leeren Formeln und materiellen Nutzungsmöglichkeiten kalkulierende Geist der Moderne habe das natürliche Verhältnis der Gegenwart zur Zeit aufgelöst.

Was wäre daraus zu folgern? Weniger leeres Zukunftsgequatsche, dafür genauestes Sicheinlassen auf die Erfordernisse des Tages und seine räumlichen Bedingungen! Dann hellte sich vielleicht unser Zeitbewußtsein wieder etwas auf.