© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Pankraz,
N. Luhmann und die komplexe Zettelkiste

Noch ist akademische Sommerpause, aber das neue Semester reift heran, und dann soll es an der Universität Bielefeld endlich richtig losgehen mit der Besichtigung, Ordnung und Auswertung von Luhmanns Zettelkasten, dem kuriosen Nachlaß des 1998 verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann, den die Bielefelder schon 2011 für einen satten Millionenbetrag von der Tochter des berühmten Professors  erworben hatten. 

Vorausgegangen war dem Handel ein bitterer Streit zwischen den drei Familienerben, den am Ende die Tochter vor dem Oberlandesgericht Hamm gegen die beiden Söhne gewann. Diese gingen leer aus. Der Fall  erregte Aufsehen und ist als der „Streit um Luhmanns Zettelkasten“ in die Justizgeschichte eingegangen. Wird ihm jetzt ein seriöser Gelehrtenstreit über Wert und Bedeutung der einzelnen Zettel folgen? Pankraz ist eher skeptisch, denn Luhmanns Zettelkasten ist gar kein schlichter Kasten, sondern eine riesige Kiste mit hunderttausend Zetteln. Quantität erschlägt wieder einmal Qualität.

Hinzu tritt der Umstand, daß das Institut des Zettelkastens inzwischen vollständig aus der Mode gekommen ist. Wer legt denn heute, im Zeitalter der Computer und der elektronischen Datenspeicherung, noch Zettelkästen an, um gewisse Einfälle und Konklusionen vor dem Vergessen zu schützen? Nicht einmal in kongolesischen Pfahldörfern passiert das mehr. Einst berühmte literarische Zettelkästen wie etwa die von Arno Schmidt, Walter Kempowski oder Hans Blumenberg lösen selbst bei Papierliebhabern nur noch ungeduldiges Kopfschütteln aus und lassen sie nach baldiger Digitalisierung rufen.


Im Falle von Luhmanns Zettelkiste konzentriert sich das Restinteresse auf die Frage, was denn nun „komplexer“ sei: das, was sich in seinen Büchern und sonstigen zu Lebzeiten veröffentlichten Sachen findet, oder das, was auf den Zetteln in der Kiste steht? Luhmanns zentrale These war bekanntlich, daß das lebendige Sein durch den „Abbau von Komplexität“ in die Wirklichkeit trete. Alles hänge ursprünglich miteinander zusammen, doch dieser gewissermaßen überkomplexe Urzustand differenziere sich, indem (spontan oder bewußt herbeigeführt) alle möglichen „Systeme“ entstünden und so die Welt in Ordnung brächten.

Besonders bei modernen, „postideologischen“ Politikern fand und findet diese These vom notwendigen Abbau von Komplexität begeisterte Zustimmung und machte ihren Autor  beliebt. Luhmann, so wurde man belehrt, habe allen Großtheorien und utopischen Flausen den Laufpaß gegeben. Er kenne nur noch „Systeme“, Netzwerke aus  selbstreferentiellen Verknüpfungen, wobei es im Grunde völlig gleichgültig sei, ob es sich dabei um einen natürlichen oder um einen künstlichen, um einen mechanischen oder um einen von Intelligenz gesteuerten Vorgang handele.

Luhmann, so tönt es weiter aus dem Berliner Kanzleramt und von diversen anderen politischen Kommandohöhen, habe mit seinem Abbau von Komplexität definitiv den Weg zu erfolgreicher Politik eröffnet. Die Entscheidungen und Prozesse müßten auf breitester Front resolut vereinfacht, auf einige wenige Formeln innerhalb eines klaren, übersichtlichen Systems reduziert werden, und schon sei es vorbei mit der nach der Wende von 1989 so oft und so laut beklagten „neuen Unübersichtlichkeit“.

Unterdessen registriert auch der biederste Zeitgenosse tagtäglich voller Sorge, wie das politische Geschehen in der Welt und im eigenen Lande immer unübersichtlicher und komplexer wird und die Politiker in Berlin, die so munter Komplexität abbauen, nur noch ratlos im Nebel herumstochern und von einer Dummheit in die andere stolpern. Ob „Euro-Rettung“ oder neue Völkerwanderung – überall die gleiche Unverfrorenheit mächtiger Nichtwisserei, feiges Vorsichherschieben von Entscheidungen, die an sich in größter Dringlichkeit gefällt werden müßten.


Gern wüßte Pankraz, was Niklas Luhmann, lebte er noch, zu dem ruchlosen Durcheinander, das die Politiker in seinem Namen angerichtet haben, sagen würde. Er war ein Praktiker durch und durch, gelernter Jurist und Verwaltungsfachmann, den nicht selten ein schlechtes Gewissen plagte angesichts des hohen Abstraktionsgrads seiner Systemtheorie. „Flug über den Wolken bei ziemlich geschlossener Wolkendecke“, nannte er einmal mit schärfster Selbstkritik sein rigoros soziologisches Treiben, und sein alter Lehrer Talcott Parsons, der sich in Systemtheorien auskannte, warf ihm „bloßes Glasperlenspiel“ vor. 

Es stimmte ja auch: Unausbleibliche Folge eines bewußten Fluges über den Wolken bei wissenschaftlichen Fragen ist, daß die wirklichen Dinge und Verhältnisse sich zu planen Landkarten strecken oder, semantisch gesprochen, daß die alten, konkreten Wörter sich in blasse Neologismen verwandeln. Fast muß man darüber staunen, daß Luhmann trotz seiner theoretischen Wolkenschieberei in der politischen, sozialen und verwaltungstechnischen Praxis  oft recht erhalten hat, aktuelle Probleme ganz überwiegend mit Akkuratesse und einer guten Portion gesundem Menschenverstand anging.

Waren hier etwa, wie in der schauerlichen Erzählung von Robert Louis Stevenson, Dr. Jekyll und Mr. Hyde unterwegs? Und wer war Dr.  Jekyll und wer Mr. Hyde? Vielleicht bringt jetzt die gründliche Besichtigung von Luhmanns Zettelkiste einige Klarheit in dieses Seelen-Tohuwabohu. Für Pankraz steht allerdings bereits fest: Der wahre Niklas Luhmann war ein Dr. Jekyll, der das Leben kennt und genau weiß, wie vielfältig und komplex es ist, und sich darauf einstellt.

Luhmanns Zettelkiste ist an sich schon ihres Umfangs wegen Beleg für solche Vermutung;  hier schlägt die Quantität tatsächlich einmal in die Qualität um. Wenn jemand hunderttausend Zettel mit Einfällen vollschreibt und sie in einer Kiste sammelt, dann will er damit nur eines sagen: Reduzierung von Komplexität ist allenfalls ein Machtinstrument für Politiker und Bürokraten, die Wahrheit aber ist die Komplexität.