© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Alle wollen nach Almania
Mazedonien: Zorn auf Athen und Unverständnis gegenüber der EU
Billy Six

Schweiß perlt von der Stirn, knochentrockener Staub liegt auf der Lunge. Doch es geht vorwärts. Buschland, Niemandsland – zwischen Griechenland und Mazedonien. Die Zehn-Personen-Wandergruppe aus Syrien hat sich ein eigenes arabisches Etikett verliehen, seit sie in der Türkei zusammenfanden. Die sunnitisch-muslimischen Jungs sind modern gekleidet, haben anders als andere Zuwanderer aus Pakistan oder Afghanistan Ausbildungen zum Zahnarzt oder Bankkaufmann. 

Ihre Sichtweisen zum Islam sind widersprüchlich, ablegen würden sie ihn nie. Im Gegenteil: Es besteht Mitteilungsbedürfnis. Ihr Stolz: Das siebenjährige Töchterchen eines der Männer, „die Mutigste von uns“, wie sie sagen, vor allem während der 1.200-Dollar-Überfahrt – pro Kopf – mit dem Schnellboot von der westtürkischen Çesme-Halbinsel zur knapp zehn Kilometer entfernten griechischen Insel Chios. Ihre Reise nach Deutschland scheint zugleich auch Spiel und Abenteuer zu sein. Hier wie bei anderen findet sich die Gewißheit, verbreitet mit leuchtenden Augen: „Deutschland will und braucht uns! Auf in ein besseres Leben!“ 

Grenzverteidigung gelingt lediglich zwei Tage

Daß es nicht weiter in Richtung des ersehnten „Almania“ geht, liegt an der Polizei und Armee Mazedoniens. Sie haben Nato-Draht gespannt, Panzerfahrzeuge aufgefahren – und durch Ausrufung des Ausnahmezustands Spezialkräfte an der Grenze stationiert. Gegen die anstürmenden Massen wird Tränengas eingesetzt. Etwas weiter abseits ruft eine andere Syrer-Gruppe: „Die schießen!“ Der Damm hält – für zwei Tage. 

Der tägliche Grenzdurchbruch von 1.000 bis 5.000 illegalen Reisenden ins Kleinstädtchen Gevgelija strapaziert  die Nerven der etwa 16.000 Einheimischen. Einige versuchen zu helfen, viele halten sich abseits des Massenlagers am Bahnhof, wo über Tage Faustkämpfe um die knappen Zugplätze gen Serbien stattfanden. 

Syrer werfen vor allem Afghanen und Schwarzafrikanern vor, sich hinter ihnen zu verstecken. Parks wurden zu Toiletten und Müllplätzen. Immerhin: Die Kriminalität sei nicht gestiegen, sagen Polizei und Einwohner übereinstimmend. „Würden sie sich an unserem Eigentum vergreifen, gäbe es hier einen Aufstand“, so Bürgermeister Ivan Frangov im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Die Regierung in Skopje habe im Juli entschieden, jedem Migranten ein 72-Stunden-Visum auszustellen, um einen geordneten Transit zur mazedonisch-serbischen Grenze zu ermöglichen, inklusive der legalen Nutzung von Hotels und Transportmitteln. „Warum gibt die EU Millionensummen für die Migranten an Griechenland, nicht aber uns?“ fragt Frangov. Und: „Wieso organisiert man nicht von Thessaloniki Direktzüge nach Deutschland?“ 

Der Bürgermeister bringt den wachsenden Ärger über Griechenland zum Ausdruck. Seit 24 Jahren bekämpft Athen den Staatsnamen „Mazedonien“, das es als sein historisches Erbe sieht. Nun nehmen die Spannungen sogar noch zu, seit viele Mazedonier sich zusehends als Opfer einer Verschwörung sehen: durch Griechenland, das Migranten „zwecks Destabilisierung“ an die Grenze fahre. Deutschland, das angeblich nach neuen Gastarbeitern lechze. Und die USA als „Kriegstreiber und Fluchtverursacher“. 

Die Dublin-Regelung ist nur noch eine Farce

Tatsächlich sind im Dorf Idomeni auf der griechischen Seite Reisebusse zu beobachten, die die Zuwanderer unmittelbar vor der Staatsgrenze aussetzen. Sie starten diskret von Thessaloniki, für gerade mal 20 Euro. Nachfragen an den Bahnhöfen sind dort unerwünscht. Die Polizei von Idomeni hat dennoch eine Gruppe Pakistaner verhaftet, die Rucksäcke stapeln sich vor dem Gebäude. „Die hatten keine Registrierung“, so ein Uniformierter. „Die anderen dürfen sich jedoch bewegen wie sie wollen.“ Daß Dublin-gemäß mal eine Rückführung ins Land des EU-Ersteintritts stattfinde, glaubt dennoch niemand. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz verkündet bei einem Besuch, das System funktioniere „gar nicht mehr“.

Über ihre Nachbarn haben die griechischen Staatsdiener kategorische Auffassungen: „Die Skopje-Polizei schlägt die Migranten; Banditen rauben sie auf ihrem Weg aus.“ Nichts davon läßt sich in tagelanger Grenzbegehung feststellen. Nur, daß die Grenze des souveränen Mazedonien zusammenbricht, als Hunderte die Absperrung überspringen. Kinder, Frauen und Alte werden vom Menschensturm in den Stacheldraht gepreßt – Blut, noch mehr schlechte Presse. Staat und Gesetz kapitulieren. Ohne Registrierung dürfen die Massen nun passieren und werden auf der grünen Wiese kontingentweise in Sonderzügen einsortiert. Niemand weiß, was auf ihrem Weg gen Norden passieren wird.  

Annette Groth (61), Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, macht sich vor Ort ein Bild. Stolz reckt sie ihr Palästina-Armband in die Höhe und spricht von „unwürdigem, unmenschlichem Elend“. Die Abfallberge aus Eßwaren, vollen Trinkflaschen, Kuscheltieren und Klamotten registriert sie nicht. Sie fordert die Einführung „humanitärer Visa“. Auf die Frage, wie viele Migranten für Deutschland zumutbar seien, reagiert sie zunehmend emotional: „Was heißt hier zumutbar? Ich möchte hier keine Zahlen nennen, das mache ich nie.“ Eine Million sei jedoch kein Problem, da Deutschland reich sei – und wegen seiner Waffenexporte Schuld auf sich geladen habe. 

Ein Stück weiter nördlich der Bahnschiene diskutieren deutsche Journalisten mit mazedonischen Grenzern, die mühsam Korridore zum Menschenabfluß aufrechterhalten. „Europa hat sich immer verändert“, belehrt die Reporterin des Freitag. Der RTL-Mann spricht von einer „Schande für Europa“. Der Spezialpolizist in Tarnuniform schüttelt mit dem Kopf: „In 20 Jahren werden wir alle in Europa große Probleme mit diesen Leuten haben.“

Foot: Ordnungsversuche im Chaos an der griechisch-mazedonischen Grenze / Gevgelijas Bürgermeister Ivan Frangov (r.) spricht Klartext: „Warum organisiert man nicht von Thassaloniki Direktzüge nach Deutschland?“