© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

„Aber hier ist es noch schlimmer“
Reportage: Kos ist für Immigranten eines der ersehnten Einfallstore in die EU / Doch wer hier strandet, will schnell wieder weg – nach Deutschland
Hinrich Rohbohm

Komm mit, ich zeige dir, wie wir leben.“ Mohammed Amir deutet mit seiner Hand auf einen kleinen Platz neben der Polizeistation von Kos. Jener griechischen Insel, die sich nur wenige Kilometer vor dem türkischen Festland befindet und derzeit zum Schauplatz eines Zuwanderungsdramas von Asien nach Europa geworden ist.

Es sind Tausende, die sich mit Schlauchbooten aus dem Umland des türkischen Ferienortes Bodrum aufmachen, um nach Kos und damit in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union zu gelangen. Schlepperbanden organisieren in Nacht-und-Nebel-Aktionen die oftmals nicht ungefährliche Überfahrt. Sie kassieren dafür Summen zwischen 1.500 und 3.500 Euro. Ihre Klienten sind zumeist Syrer, Iraker, Iraner, Afghanen oder Pakistanis wie Mohammed Amir. „Ich bin vor fünf Tagen angekommen“, erzählt der 45jährige.

„Unsere Polizei  verdient da kräftig mit“

Seitdem campiert er mit etwa 300 Landsleuten auf dem staubigen Boden neben dem Polizeirevier. Als Decken und Matratzen dienen ihnen alte Pappkartons. Leere Wasserflaschen liegen neben alten Plastikbeuteln und Papierfetzen herum. „Wir stehen den ganzen Tag vor der Polizeistation, um uns zu registrieren“, erzählt der gelernte Techniker für Klimaanlagen, der vor den Taliban geflohen sei, wie er sagt. Mit ihm warten Hunderte anderer Zuwanderer, die sich vor dem Eisengitter drängen. Vor dem Eingang steht ein etwas hilflos dreinblickender Polizist. Vor einigen Wochen hatten Asylbewerber versucht, gewaltsam in die Wache einzudringen, die Beamten konnten sie nur mit Schlägen zurückhalten.

„Da ist es schon öfter auch zu Schlägereien zwischen Syrern und Pakistanis gekommen“, weiß ein ganz in der Nähe ansässiger griechischer Gastronom der JUNGEN FREIHEIT zu berichten. Der Hintergrund: Die griechischen Behörden haben beim Registrieren der Asylbewerber Prioritäten gesetzt. „Als erstes werden die Syrer registriert, dann Afghanen und dann wir Pakistanis“, erzählt auch Mohammed Amir. Was offenbar zu Unmut unter den verschiedenen Ethnien geführt hat.

Rund 7.000 Asylbewerber sollen sich derzeit auf Kos aufhalten, Tendenz rasant steigend. Ein Fußballstadion dient den griechischen Behörden als Sammelstelle, um dem Ansturm Herr werden zu können. 1.500 Immigranten sind allein hier untergebracht. Nachdem einige von ihnen schnellere Registrierungen gefordert hatten, war die Situation auch im Stadion eskaliert. Die Immigranten begannen Sitzstreiks abzuhalten, um auf mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln durch die griechischen Behörden hinzuweisen. Es kam zu Schiebereien, schließlich zu Prügeleien. Die Polizei reagierte mit dem Einsatz von Schlagstöcken und Feuerlöschern, um die aus dem Stadion hinausdrängenden Asylbewerber in Schach halten zu können.

Mohammed Amir ist nicht gut auf die Behörden zu sprechen. „Die lassen uns hier verkommen“, sagt er und zeigt auf einen jungen Mann mit orangenem Hemd, der unter einem Baum liegt. „Er ist krank, hat Fieber, aber niemand hier ist bereit, ihm zu helfen.“ Es gebe kein Essen und kein Trinken. „Wir leben von dem, was uns Touristen gelegentlich geben.“ Und aus Mülltonnen essen, das komme für ihn, einen tief gläubigen Muslim, nicht in Frage. „Das kann ich nicht tun, es könnte Schweinefleisch dabei sein.“ Die um ihn herum Stehenden nicken übereinstimmend.

Manche sitzen in einer Gruppe von etwa zehn Leuten im Kreis. In der Mitte einer dieser Gruppen steht eine geöffnete Konservenbüchse mit Thunfisch, den sie sich teilen. Sie reichen eine 1,5-Liter-Flasche Wasser herum, die sie sich von dem Geld gekauft haben, das ihnen ein Tourist zugesteckt hat. Nachts, wenn es ruhiger ist, sei es besonders schlimm. „Dann plagen uns Mücken und andere Tiere“, sagen die Leute in der Thunfisch-Gruppe. Sie sprechen von Schlangen, die in der Dunkelheit auf dem Boden umherkriechen. Und davon, daß ihnen die Schlepper bessere Zeiten versprochen hatten, wenn sie erst EU-Territorium erreicht hätten. „Aber hier ist es noch schlimmer, in der Türkei ging es uns besser“, meint einer von ihnen.

Dort, 20 Kilometer von Kos-Stadt entfernt, befindet sich der Ferienort Bodrum. Eine Stunde dauert die Fahrt mit der Fähre von der griechischen Insel aus. Und während Asylbewerber für ihre illegale Überfahrt oft mehrere tausend Euro berappen müssen, liegt der Fährpreis bei gerade einmal 20 Euro.

Im Hafen befindet sich die alte Johanniterfestung St. Peter, die gemeinsam mit der ebenfalls von den Ordensrittern errichteten Festung Neratzia in Kos-Stadt im Mittelalter als Kontrollstelle für den Seeweg zwischen Konstantinopel und Alexandria diente und einst als uneinnehmbar galt. An den Mauern von Neratzia kampieren heute die Immigranten. Und kontrolliert werden von den türkischen Behörden jetzt vor allem Frachtschiffe, auf denen allein im letzten halben Jahr rund 120.000 Immigranten nach Europa gelangt waren. Die verschärften Kontrollen sind der Grund, warum die Schlepper ihre „Kundschaft“ nun per Schlauchboot über die Meerenge nach Kos lotsen. Bodrum dient dabei als Anlaufpunkt.

An der Strandpromenade des türkischen Ortes haben sich mehrere Gruppen von Afghanen und Pakistani unter die schattenspendenden Palmen gesetzt, um der sengenden Sonne zu entgehen. Einige haben sich ihrer Hemden entledigt, nehmen am Strand inmitten der Touristen ein Bad. Sie fallen hier weniger auf als in Kos-Stadt. Hier tragen auch die türkischen Frauen oftmals ein Kopftuch. Und Schnauz- und Stoppelbart sind auch unter türkischen Männern keine Seltenheit.

Statt Wasser haben sie Zwei-Liter-Flaschen mit Fanta und Cola dabei, in Plastiktüten führen sie Fladenbrot mit sich. Ein Zeichen dafür, daß es ihnen hier besser geht. „Ich habe schon davon gehört, daß es in Kos schlimm ist“, sagt einer von ihnen, ein dunkelhäutiger Afghane. Auch er sei vor den Taliban geflohen, warte derzeit darauf, wie es weitergeht. Genaueres will er nicht sagen. Während die Asylbewerber auf Kos bereits offen über ihre Situation sprechen, halten sich auf der türkischen Seite noch viele bedeckt. Sie sind noch nicht in der EU, noch nicht in Sicherheit. Und auch die Schlepper mahnen zur Diskretion. Per Handy lotsen sie die Asylbewerber zumeist in der Nacht an einen Treffpunkt an der Küste, bringen sie von dort mit dem Schlauchboot auf die europäische Seite des Ionischen Meeres.

„Unsere Küstenwache und die Polizei verdienen da kräftig mit“, schimpft Dimitrios, ein griechischer Barbesitzer, dessen Lokal sich direkt am Stand von Kos, etwas außerhalb der Stadt befindet. Er spricht von Schmiergeldern, die fließen würden, damit die griechischen Behörden bei der Überfahrt beide Augen zudrücken. „Eigentlich ist es doch für die Küstenwache nicht so schwer, ein paar Boote aufzuspüren und die Leute wieder zurückzubringen.“ Andere Griechen würden dagegen genau das tun. „Einige wurden überfallen. Von Griechen. Die haben die Leute ausgeraubt und die Boote beschädigt, damit sie nicht nach Europa gelangen können“, gibt ein Iraker eine Geschichte wieder, die auf Kos derzeit die Runde macht und von griechischen Behörden vehement dementiert wird.

„Möglich, aber davon weiß ich nichts“, sagt Dimitrios knapp. Selbst wenn es so sei, würde das nichts ändern, meint er. „Jeden Morgen landen hier trotzdem Dutzende Boote am Strand, und es werden immer mehr.“ Für das Tourismusgeschäft auf der Insel sei das fatal. „Die Gäste bleiben weg“, klagt Dimitrios, während die Zikaden in den Bäumen vor seiner Bar lautstark zu zirpen beginnen, so als wollten sie dem Protest des Gastwirts mit Nachdruck zustimmen. Er zeigt auf die zahlreichen Igluzelte, die am Strand aufgebaut sind und wo sich viele Asylbewerber aufhalten. „Manche Touristen wechseln aus Angst die Straßenseite. Aber Ärger gibt es normalerweise nicht.“ Keine Raubüberfälle, keine Diebstähle, kein Drogenhandel. Die Ankommenden seien gegenüber Touristen ausgesprochen friedlich.

Geht es nach den griechischen Behörden, müssen sie dennoch weichen. „Maximal zehn Tage dürfen wir noch bleiben, dann müssen wir ins Aufnahmelager“, verrät Surusch, ein 22 Jahre alter Iraner. Gemeinsam mit dem 16jährigen Ali Razar teilt er sich ein Zelt. Die beiden sind vor der „Diktatur“ in ihrem Land geflohen, sagen sie. „Im Iran bist du kein freier Mann“, sagt Ali Razar. Sein Ziel: Deutschland. Wie für die meisten Immigranten ist Kos auch für ihn eine reine Durchreisestation auf der sogenannten Balkanroute, die von Bodrum über Kos nach Athen und von dort weiter über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich und Deutschland führt.

Von den Schleppern auf dem Meer im Stich gelassen

„In Deutschland leben Landsleute von uns, da haben wir die besten Chancen, eine neue Existenz aufzubauen“, schildert auch ein syrischer Familienvater seine Absicht, nach Mitteleuropa zu gelangen. Erst einen Tag zuvor sei er auf Kos angekommen und froh, es geschafft zu haben. Der Muslim ist gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern vor dem IS aus Syrien geflohen, dessen extreme Religionsauslegung er ablehnt, wie er sagt. Auf der Überfahrt mit dem Schlauchboot von Bodrum nach Kos habe seine Familie angstvolle Momente überstehen müssen. „Die Schlepper haben uns im Stich gelassen, wir waren auf uns allein gestellt. Ich dachte nur, hoffentlich überleben wir das. Meine Frau war sogar einmal aus dem Boot gefallen“, schildert der Vater seine dramatischen Erlebnisse auf dem Meer. Die Familie will sich ebenfalls registrieren, um weiterreisen zu können.

Hunderte Syrer haben sich im Schatten der Festungsmauern von Neratzia niedergelassen, blicken auf die große Fähre, die im Hafen von Kos-Stadt angelegt hat. Verzweiflung spiegelt sich in ihren Gesichtern ebenso wider wie Müdigkeit. Viele ihrer Landsleute haben bereits auf dem Schiff Quartier bezogen. Doch nur registrierte Syrer erhalten Zutritt.

Diejenigen, die es geschafft haben, stehen an der Reling und blicken hinunter auf den Hafen, dessen Szenerie das Zuwanderungsdrama veranschaulicht. An den Bootsstegen liegen zahlreiche Schlauchboote vertäut. Schwimmwesten sind an Land zu großen Haufen aufgetürmt oder liegen noch in den Booten. Am Strand schräg gegenüber der Fähre versucht ein Vater mit einem Paddel einen kleinen Kieselwall aufzuschütten, um das Zelt seiner Familie vor Wellen zu schützen. Ein Mann mit großem Schnauzbart und ergrautem Haar betritt das Schiff. Als er an Bord ist und seine Papiere vorgezeigt hat, läßt er sich geschafft in einen der dort herumstehenden Plastikstühle fallen, wirft sich die Hände ins Gesicht und stößt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Er hat es geschafft.

Am nächsten Morgen startet die Fähre, die eigentlich noch zwei Wochen in Kos hätte bleiben sollen. Ihr Ziel ist Athen. Die nächste Durchgangsstation. Es sind Bilder der Gegensätze, die sich einem auf Kos bieten. Am Strand haben syrische Flüchtlinge sich aus Pappe einen notdürftigen Unterstand gebaut.