© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/15 / 28. August 2015

Der Vordenker
Nachruf: Mit seiner Ostpolitik leistete Egon Bahr einen wichtigen Beitrag zur Einheit der Nation in Zeiten der Teilung
Detlef Kühn

Egon Bahr, der in der Nacht zum 20. August in Berlin im Alter von 93 Jahren starb, ist ein Platz in den Geschichtsbüchern für das zwanzigste Jahrhundert sicher. Sein Name ist eng verbunden mit der Teilung Deutschlands und ihrer glücklichen Überwindung durch die friedliche Revolution in der DDR in den Jahren 1989/90. Er war einer der wichtigsten Protagonisten der neuen Ostpolitik nach 1969, die entscheidend wurde für den Erhalt der deutschen Nation in der Zeit der Teilung. Gleichwohl kann sein politisches Wirken auch als Beispiel dafür dienen, daß selbst nationalbewußte deutsche Intellektuelle nicht immer gegen die Versuchung gefeit sind, den negativen Einflüssen eines schädlichen Zeitgeistes zu erliegen.

Der 1922 geborene Sohn einer aus Schlesien stammenden Familie bestand 1940 in Berlin das Abitur und wurde anschließend Soldat in einer Artillerie-Einheit. Die Ausbildung zum Offizier lag nahe. Da wurde entdeckt, daß er eine jüdische Großmutter „verheimlicht“ hatte, weshalb Bahr 1944 aus der Wehrmacht entlassen wurde. Allerdings wurde er sofort zur Firma Rheinmetall-Borsig dienstverpflichtet, wo ihm der Abschluß einer Lehre als Industriekaufmann ermöglicht wurde.

Rasante Karriere als Journalist

Nach Kriegsende folgte eine rasante  Karriere als Journalist. Den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 erlebte Egon Bahr schon als Chefredakteur des amerikanischen Rundfunksenders Rias Berlin. Bei dieser Gelegenheit spürte er zum ersten Mal die Hilflosigkeit eines deutschen Journalisten, der zwar über das Geschehen berichten, aber nicht helfend eingreifen durfte. Die westliche Welt begnügte sich mit verbalen Protesten.

Dieses Gefühl erlebten Bahr und die Berliner erneut und in noch stärkerem Maße nach dem 13. August 1961. Die letzte Möglichkeit, wo sich Deutsche aus Ost und West noch zwanglos treffen konnten, wurde durch die Mauer beseitigt. Das war nicht nur eine millionenfache menschliche Tragödie. Den Deutschen wurde schlagartig bewußt, daß ihr Nationalstaat und damit ihre Nation in höchster Gefahr war und daß niemand in der Welt ihnen in dieser Lage helfen konnte und wollte. Egon Bahr war zu dieser Zeit bereits Leiter des Senatspresseamts und damit ein enger Mitarbeiter des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Die neue Lage schweißte die beiden Männer in einer lebenslangen Freundschaft eng zusammen.

In West-Berlin erkannten die Verantwortlichen klarer als im politischen Bonn, daß es galt, die Mauer – wenn man sie schon nicht beseitigen konnte – so durchlässig wie irgend möglich zu machen. Darüber mußte auch und gerade mit der Regierung in Ost-Berlin gesprochen werden, die bisher nicht anerkannt worden war, sondern tunlichst ignoriert wurde. Das war nun nicht mehr durchzuhalten. Eine neue Ostpolitik wurde gedanklich entworfen. Egon Bahr prägte dafür in einer vielbeachteten Rede in Tutzing 1963 den Begriff „Wandel durch Annäherung“. Seine zahlreichen Gegner konterten: „Wandel durch Anbiederung“. Es dauerte noch zehn Jahre, bis die neue Politik im wesentlichen akzeptiert wurde.

Dies war nicht nur das Verdienst von Brandt, Bahr und ihrer SPD, wie heute oft suggeriert wird. Um der historischen Wahrheit willen muß gesagt werden, daß die neue Ostpolitik ohne den Beitrag der FDP nicht oder erst viel später hätte durchgesetzt werden können. Dies zeigte sich erstmals Ende 1963, als vom West-Berliner Senat mit den Ostbehörden eine Passierschein-Regelung ausgehandelt wurde, die West-Berlinern wenigstens über Weihnachten und Neujahr einige Tage lang hunderttausendfache Besuche im Ostsektor der Stadt ermöglichte. Es war das Verdienst der FDP, die damals in Bonn mit ihrem Parteivorsitzenden Erich Mende den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen stellte, daß die Bundesregierung unter Kanzler Adenauer dieser Form der Anerkennung der kommunistischen Behörden zustimmte. Ab 1969 war die neue Ostpolitik der Kitt, der die Regierung Brandt/Scheel (später Schmidt/Genscher) immerhin bis zum Herbst 1982 zusammenhielt. Dann kam auch die Union unter Bundeskanzler Kohl nicht umhin, diese Politik der menschlichen Kontakte ohne völkerrechtliche Anerkennung der DDR fortzusetzen.

Die SPD, und mit ihr Egon Bahr, hätte also in den achtziger Jahren mit dem bisherigen Ergebnis ihrer Ostpolitik zufrieden sein dürfen und diese  aus der Opposition heraus kritisch bis zu einer möglichen Wiedervereinigung begleiten müssen. 

Die Wiedervereinigung aus den Augen verloren

Die Veränderungen in der Sowjet-union unter Gorbatschow boten hinreichend Anknüpfungsmöglichkeiten. Leider kam sie aber nach dem Machtverlust auf die unglückliche Idee, auf Parteiebene mit der SED eine eigene Ostpolitik zu etablieren und Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu pflegen. Dies ging so weit, daß die Demokraten von der SPD und die Kommunisten der SED sich in einem Positionspapier gegenseitig ihre Existenzberechtigung zusicherten.

Auch Egon Bahr hatte das Ziel der Wiedervereinigung aus den Augen verloren. Er glaubte, auf die (berechtigte) Angst der SED-Führung vor einem Machtverlust Rücksicht nehmen zu müssen. Nun wollte er „die deutschen Chancen in der Teilung suchen“ und plädierte „ehrlich für zwei Friedensverträge“ mit Bundesrepublik und DDR.

Der Mann, der so viel für die Wahrung der Einheit der deutschen Nation trotz staatlicher Teilung getan hatte, war unfähig, die Krise des Kommunismus zu erkennen und die nötigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Nach der Wiedervereinigung, die ohne seine konstruktive Mitwirkung zustande kam und seine Partei für viele Jahre die Teilhabe an der Macht auf Bundesebene kostete, hat er sich um eine ehrliche Stellungnahme weitgehend gedrückt.

Foto: SPD-Politiker Egon Bahr: Mit Willy Brandt war er lebenslang freundschaftlich verbunden