© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Lebendes Barometer aus südlichen Gefilden
Klimaveränderung: Wärmeliebende Krabben bevölkern zunehmend die Nordseeküsten
Christoph Keller

Auch bei Hitzerekorden im Binnenland kommen die Wassertemperaturen von Nord- und Ostsee über eher kühle 18 bis 20 Grad Celsius selten hinaus. Das dürfte sich bis 2050 fühlbar ändern. Denn die mittlere Wassertemperatur in der Deutschen Bucht ist seit 1962 um 1,67 Grad Celsius gestiegen. Gerade die Austauschprozesse zwischen Nordsee und Atlantik während der letzten zwei Jahrzehnte scheinen zu diesem deutlichen Anstieg geführt zu haben. Dies belegten Langzeitstudien des auf die Ökologie von Krabben spezialisierten Zoologen Michael Türkay (Senckenberg-Forschungsinstitut, Frankfurt/M.).

Als lebendes Barometer dient Türkay, neben anderen wärmeliebenden Arten wie dem Diogenes-Einsiedler (Diogenes pugilator), der Sägegarnele (Palaemon serratus) und der Samtkrabbe (Necora puber), in erster Linie die zur Familie der Schwimmkrabben gehörende Breitfußkrabbe (Portumnus latipes). Von der holländischen und belgischen Küste südwärts bis zum Mittelmeer nimmt deren Häufigkeit zu. Nur zwischen Borkum und Sylt war sie, nachdem sie ein Berliner Zoologe 1855 vor den Ostfriesischen Inseln erstmals festgestellt hatte, ein höchst seltener Gast. Türkay, der seit 1970 Wangerooge zu Exkursionen ansteuert, mußte sich daher bis 2003 gedulden, bevor er dort seine erste Breitfußkrabbe sichtete. Seitdem findet er den gepanzerten Bewohner der Brandungszone regelmäßig am Wangerooger Nordstrand und immer wieder in zehn bis15 Metern Tiefe am Langen Riff, 1,5 Seemeilen nördlich der Ferieninsel. Seit 2005 mehren sich die Funde auch an anderen Küstenabschnitten, so vor Eiderstedt, Sylt und Norderney.

Viele Neusiedler am Strand von Helgoland

Vergleicht man die Vorkommen mit der Entwicklung der auf Helgoland-Reede ab 1870 gemessenen Wassertemperatur, ergibt sich für Türkay insoweit eine auffällige Parallele, als die wenigen Einzelfunde stets mit einem Temperaturhoch korrelieren, so etwa drei Meldungen zwischen 1920 und 1936, exakt dem Zeitraum, für den in der Deutschen Bucht eine Wärmeperiode registriert wurde. Auch während des ersten Besiedlungsschubs zwischen 1990 und 1995 sowie nach 2000 stieg die Wassertemperatur. Der kalte Winter 2008/09 habe die Zuwanderung am Wangerooger Strand zwar zunächst gestoppt, aber 2011 habe sich der Neubürger der Nordsee dort erneut niedergelassen.

Für Türkay beweisen diese Beobachtungen, daß die Breitfußkrabbe immer weiter nordwärts ziehe und ihre Populationen sich über Generationen hinweg stabilisierten; was zweifelsfrei belege, daß es im Durchschnitt wärmer werde und sich die Nordseefauna zwangsläufig verändere. Erhärten lasse sich diese Schlußfolgerung durch Untersuchungen an anderen „lebenden integrierenden Meßgeräten“, die ähnlich wie die Breitfußkrabbe sensibel auf Temperaturänderungen des Wassers reagierten. So tauchte auch der Diogenes-Einsiedlerkrebs, ein typischer Mittelmeerbewohner, 2005 auf Wangerooge auf, und 2008 fand man ihn am Strand der Helgoländer Düne sogar „in großer Zahl“. 2009 hatte diese Flachwasserart das Seegebiet vor Amrum erreicht. Bis dorthin, in den Bereich der Nordfriesischen Inseln, schafften es die mediterrane Sägegarnele, die 2003 bei Husum, 2007 auf Pellworm und 2014 auf Hallig Hooge entdeckt worden war, sowie die bislang noch rare, ebenfalls an den Mittelmeerküsten beheimatete Samtkrabbe, die sich 2003 vor Sylt einstellte.

Türkay betont, daß es sich bei diesen Meerestieren nicht um „Driftbojen“ handle, die kurzfristige Umweltveränderungen nutzen, um bald wieder „sang- und klanglos zu verschwinden“. Bei den Probenahmen würden nicht Einzel­individuen erfaßt, man nehme vielmehr Stichproben aus Populationen, die wegen ihrer Mindestgröße als stabil anzusehen seien. 

Mithin entspreche dem Vorkommen einer Art in einem bestimmten Gebiet die Integration über den Zeitraum eines Lebenszyklus und überdies dem Entwicklungszyklus einer Population. Also könne man solche über Jahrzehnte gesammelten Daten nicht als punktförmige Einzelmessungen relativieren (Senckenberg – Natur – Forschung – Museum, 7-8/15). Sie indizieren vielmehr die Wirkung des Klimawandels in der Biosphäre. Eine Aussage, die mit einem kleinen Fragezeichen zu versehen ist. Denn allein die Häufigkeit des Auftretens eingewanderter Arten erlaubt heute den Schluß auf eine präzedenzlose, durch den Klimawandel ausgelöste ökologische Veränderung. Eine vergleichbar lange Wärmeperiode wie nach 1990 ist jedenfalls für die Nordsee nicht neu, wie die Daten für die 1920er und 1930er Jahre dokumentieren.