© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/15 / 21. August 2015

Ansturm überfordert Behörde
Ortstermin: Das in Berlin für Asylbewerber zuständige Amt kann die Neuanträge kaum noch bewältigen und hofft auf Entspannung
Ronald Gläser

Beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) ist Land unter. Die Behörde ist der erste Anlaufpunkt für Asylbewerber in der Hauptstadt. Und sie kommt kaum noch hinterher, die Anträge zu erfassen, geschweige denn zügig zu bearbeiten. Völkerwanderung in Nahaufnahme. Hier sitzt eine Familie im Schatten. Dort stillt eine Frau mit Kopftuch ihr Kind hinter ein paar Büschen. Fast alle kampieren im Freien. Die meisten stehen gerade in der Schlange, zwängen sich durch die rot-weißen Absperrgitter. Stoßweise werden sie vorgelassen. 

Es ist Dienstag früh, und Behördenleiter Franz Allert ist persönlich erschienen, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Er steht starr am Ende des Gitters, die Arme auf das Metall gestützt, Haare sauber gekämmt, die Ärmel des blauen Hemds hochgekrempelt und sagt Guten Tag.

Sie kommen aus aller Herren Länder

Die Leute, die er begrüßt, sind dagegen müde, ungewaschen, unrasiert. Die Flüchtlinge sind meistens männlich und stammen überwiegend vom Balkan oder aus Asien. Viele der mitgereisten Frauen tragen ein Kopftuch. Schwarzafrikaner sind hingegen nur einige zu sehen. 

Zwei der Wartenden kommen aus dem Nahen Osten: Achmed und Mahmoud. Beide sind auf dem gleichen Weg nach Deutschland gekommen: Über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Österreich gelangten sie an ihr Ziel. „Wir sind meistens gefahren und mußten manchmal einen Teil der Strecke zu Fuß zurücklegen“, berichtet der 25 Jahre alte Achmed, der aus dem Libanon stammt. Er ist bereits seit sechs Tagen in Berlin und hat die Nächte vor der Behörde unter freiem Himmel verbracht. Warum ist er weggegangen von zu Hause? Wegen der Regierung und des Krieges, antwortet er auf englisch. Achmeds Landsmann Saleh gesellt sich dazu. Er lebt seit 12 Jahren als Asylbewerber in Berlin und dolmetscht. Vor welchem Krieg er nun aus dem Libanon geflohen sei, darauf  kann Achmed trotz Dolmetscher keine klare Antwort geben.

Mahmoud hingegen kommt aus einem Bürgerkriegsland, nämlich Syrien. Er gibt an, 45 Jahre alt zu sein, sieht aber älter aus. Seine Frau und seine drei Kinder hat er in seinem Dorf bei Damaskus zurückgelassen. Er will sie nachholen, wenn es geht. Weder mit den Islamisten noch mit dem Assad-Regime hat er etwas am Hut. Er sagt, er sei vor beiden geflohen. „Ich habe Angst“, murmelt er. Dann zeigt er seine Unterlagen. Diese beinhalten die Personenstandsinformationen, weisen ihn als 43jährigen aus. Hat er sich eine fremde Identität zugelegt? Beide Araber geben an, ihren Paß auf der Reise verloren zu haben. 

„Ich brauche zwei Karten“, beklagt sich der Syrer. Was für Karten? Saleh klärt auf: Die Männer erhalten in den ersten Monaten nur Taschengeld bei freier Unterbringung und Verpflegung. Es beträgt 140 Euro und wird nicht mehr bar ausgezahlt. Sie bekommen eine Karte, mit der sie es am Geldautomaten abheben können. Mahmoud hat nichts mehr anzuziehen und besteht daher darauf, eine weitere Karte zu erhalten. Untergebracht ist er in einer Spandauer Herberge – und damit hat er Glück. Denn Berlin ist überlaufen mit Asylbewerbern. In der vergangenen Woche ließ der Senat die Umrüstung von Gefängnissen in Unterkünfte in Angriff nehmen. Schon jetzt wird alles angemietet, was frei ist. Viele Hostels sind randvoll belegt. Auch leerstehende Wohnungen und Schrottimmobilien geraten ins Visier. Zur Zeit mietet Berlin alles an, was geht. Im Stadtteil Wilmersdorf wurde sogar ein leerstehendes Rathaus als Unterkunft hergerichtet. An die Asylbewerber werden Unterkunftsgutscheine verteilt, was aber wenig hilft, weil sich kaum noch ein freies Zimmer findet. Viele müssen daher im Freien übernachten. Die Hotelbranche klagt darüber, daß der Senat zwar die Gutscheine verteilt, aber nicht mit dem Bezahlen hinterherkomme. 4.000 Übernachtungen seien noch offen, berichtete die taz.

Hektisch versuchen die Behörden in der Hauptstadt, die Lage zu verbessern. Auf dem Lageso-Gelände wurden mittlerweile ärztliche Versorgungseinrichtungen errichtet. Viele freiwillige Helfer, jenseits der üblichen linken Unterstützerszene, sind gekommen, um die wartenden Asylbewerber mit Wasser und Lebensmitteln zu versorgen. 

Auf die Helfer könnte noch mehr Arbeit zukommen. Die Zahl der Asylbewerber steigt kräftig weiter. Mindestens 650.000, womöglich sogar 750.000 könnten es nach Prognosen der Behörden in diesem Jahr werden. Das wäre dann ein Drittel mehr als bislang geschätzt.