© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Irrwege nach Neuschwabenland
Vor siebzig Jahren erreichte das deutsche U 977 Argentinien: Auf diese letzte U-Boot-Mission gründeten sich Mythen über Hitlers Ende
Wolfgang Kaufmann

Während fast alle anderen deutschen U-Boot-Kommandanten im Mai 1945 kapitulierten und alliierte Häfen ansteuern ließen oder ihre Boote vor dem Zugriff des Feindes versenkten, beschloß Oberleutnant zur See Heinz Schaeffer, mit U 977 nach Argentinien zu flüchten. Das Land stand zwar seit März 1945 formell im Krieg mit Deutschland, doch erhofften sich Schaeffer und seine Männer dort selbst im Falle einer Internierung bessere Lebensbedingungen als in dem zersplitterten Agrarstaat, zu dem ihre Heimat nach dem inzwischen bekanntgewordenen Morgenthau-Plan mutieren sollte.

Der Abstimmung unter der Besatzung folgte eine extrem komplizierte Unterwasserfahrt von 66 Tagen, welche die Männer an ihre physischen und psychischen Grenzen brachte und erst in der Nähe der Kapverden endete. Dann wurde das Boot provisorisch mit Leinwänden und einer qualmenden Schornsteinattrappe als ziviler Dampfer getarnt.

In Argentinien staunte man natürlich nicht schlecht, als das „Nazi-Boot“ am Morgen des 17. August 1945 in Mar del Plata einlief – immerhin war das nun bereits der zweite Fall dieser Art: Knapp einen Monat vor U 977 hatte auch schon  U 530 unter Oberleutnant Otto Wermuth Zuflucht im selben Hafen gesucht. Das bewog den argentinischen Journalisten ungarischer Abstammung Ladiszlav Szabó, die Behauptung in die Welt zu setzen, die beiden U-Boote seien Teil eines gigantischen „Geisterkonvois“ gewesen, dessen Aufgabe darin bestanden hätte, Adolf Hitler, Martin Bormann und andere NS-Größen in den antarktischen Geheimstützpunkt „Neu-Berchtesgaden“ zu verschiffen. Allerdings konnten die daraufhin sofort aktiv gewordenen Briten und Amerikaner keinerlei Belege für derartige Aktivitäten finden. Das brachte die Gerüchte aber nicht zum Verstummen. So vermerkte das FBI-Büro in Los Angeles am 21. September 1945: „Hitler und fünfzig seiner engsten Vertrauten sind rund zehn Tage nach dem Fall Berlins mit zwei U-Booten in Süd-Argentinien gelandet. Hitler versteckt sich auf einer Ranch. Er hat sich den Bart abrasiert.“

Und auch Szabó verbreitete weiter seine „Erkenntnisse“, indem er 1947 ein Buch mit dem Titel „Hitler está vivo (Hitler lebt)“ veröffentlichte, in dem er das Refugium des „Führers“ nun als „Neuschwabenland“ bezeichnete. Offensichtlich hatte er herausgefunden, daß es 1938/39 tatsächlich eine deutsche Antarktis-Expedition dorthin gegeben hatte. Allerdings weilte diese lediglich einen knappen Monat an dem „Neuschwabenland“ getauften Abschnitt der Küste des Königin-Maud-Landes – wohl kaum ausreichend, um das behauptete gigantische Bunkersystem zu bauen. Außerdem diente das Unternehmen nachweislich nur der Erschließung von Walfanggründen für das Dritte Reich.

Dennoch legte Szabó mit seinem Werk den Grundstein für eine Welle von Veröffentlichungen über Hitlers „Flucht in die Antarktis“, welche bis heute nicht abgeebbt ist. Dabei veranlaßte der Umstand, daß es den U-Booten keinesfalls möglich gewesen sein konnte, in der zur Verfügung stehenden Zeit von Europa bis in die Antarktis und zurück nach Südamerika zu gelangen, manche Epigonen Szabós sogar zu der kühnen Behauptung, der „Führer“ und seine Getreuen hätten sich nicht unter Wasser, sondern mit „Reichsflugscheiben“, also Ufos, abgesetzt. Des weiteren kamen nun auch Gerüchte über mehrere Angriffe auf Neuschwabenland von seiten britischer und amerikanischer Spezialeinheiten auf, in deren Verlauf drei Atombomben abgeworfen worden seien.

Geschäftemacher und ihre „Hitler lebt“-Literatur

Selbstverständlich zerpflückte die Fachwelt alle diese Theorien – am gründlichsten besorgte das ein Aufsatz der beiden Antarktis-Experten Colin Summerhayes und Peter Beeching. Deshalb verfielen andere Autoren darauf, die seinerzeitige Vermutung des FBI aufzugreifen und eine weitere Variante des Mythos um U 977 und U 530 zu kreieren, wobei hier offenbar Juan Salinas und Carlos de Nápoli mit „Ultramar Sur“ den Anfang machten. Nunmehr hieß es, Hitler und dessen Entourage seien in Argentinien angelandet und dort verblieben. In vielen Fällen handelt es sich bei den Schöpfern der „Hitler lebt“-Literatur um reine Geschäftemacher; vor allem in Lateinamerika verkaufen sich solche „historischen“ Werke bestens. Allerdings wurden die Gerüchte um das Überleben und die Flucht Hitlers wohl auch noch aus anderen Gründen in die Welt gesetzt.

Zum ersten hatte Moskau im Sommer 1945 ein massives Interesse daran, den Westen zu verunsichern. Immerhin befand man sich nun im beginnenden Kalten Krieg – da kam jedes Störmanöver recht. Deshalb ist es durchaus möglich, daß der sowjetische Geheimdienst hinter den Veröffentlichungen des reichlich dubiosen Szabó stand.

Zum zweiten war da die Paranoia der Linken, die lange dazu führte, daß man allerorten alte NS-Größen sowie ein geheimes Netzwerk zur Unterstützung derselben witterte. Und zum dritten könnte auch der US-Geheimdienst CIC Falschinformationen über U 977 und U 530 lanciert haben, um durch derlei Phantasmen von der real existierenden „Rattenlinie“ abzulenken. Diese führte über Italien nach Südamerika beziehungsweise in die arabische Welt und diente dem Zweck, Exponenten des Dritten Reiches und Kollaborateuren aus anderen Ländern zur Flucht zu verhelfen. Für den CIC ergab sich hierdurch die Möglichkeit, diverse stark kompromittierte Agenten mit NS-Vergangenheit aus Europa herauszuschmuggeln und der Strafverfolgung zu entziehen, so wie das zum Beispiel im Falle von Klaus Barbie, dem früheren „Schlächter von Lyon“, geschah. Insofern war da ein bißchen Vernebelung sicher sehr erwünscht.

Foto: U 977 wird im August 1945 in Mar del Plata (Argentinien) interniert: Teil des deutschen „Geisterkonvois“