© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

In einer Reihe mit Thukydides
Erinnerung: Der britische Historiker Robert Conquest veröffentlichte Standardwerke über die Stalinzeit
Günter Zehm

Freunde wie Feinde nannten ihn den „Solschenizyn von der Stanford University“: Robert Conquest, den britischen Autor und Zeithistoriker, der vorige Woche, achtundneunzig Jahre alt, in Palo Alto in Kalifornien verstorben ist. Sein Name ist untrennbar verbunden mit der Historiographie der Sowjetjahre in Rußland und mit der Problematik von Geschichtsschreibung überhaupt. Bücher wie „Der große Terror“ und „Ernte des Todes“ („The Harvest of Sorrow“) sind Klassiker, die ihren Verfasser in eine Reihe stellen mit Thukydides, Plutarch, Edward Gibbon, Leopold von Ranke.

Conquests Stil war schnörkellos eingängig, präzise. Aber dahinter verbarg sich ein Autor, der stets voller Skrupel blieb, der weder den eigenen Erkenntnissen noch denen der anderen je wirklich vertraute und sie deshalb kontinuierlich, ja beinahe tagtäglich, mit größter Pingeligkeit überprüfte. Seine Bücher waren sichtbar Teile eines einzigen großen „work in progress“. Unermüdlich sammelte er neue Mitteilungen, die er natürlich ebenfalls genauestens auf ihren Wahrheitswert abtastete. 

Er erzählte von Terrorzeiten, Diktaturen und Zwangssystemen, von Gewalttätern und Gewaltopfern. Die Mitteilungen der letzteren warfen ganz eigene Probleme auf. Wer von den Opfern sprach genau und ungefiltert über die erlittenen Qualen? Und wem hatten sich im Lauf der Zeiten die Erinnerungen getrübt? Wer übertrieb eventuell und warum? Wer barmte um bloßes Mitleid? Wer versuchte gar, Gewinn und Vorteil aus seinen früheren Leiden zu schlagen? Wer verfälschte also die Geschichte gewissermaßen von der anderen Seite her? Auch da galt es wachsam zu sein. 

Wer den berühmten Historiker in seinem Arbeitszimmer in der Herbert-Hoover-Institution in Stanford auf diese Sache ansprach, bekam die resignierte Antwort, daß er sich allermeistens  nur in Hinblick auf die Zahl der Opfer geirrt habe; er habe die Zahl im Lauf der Jahre ständig nach oben korrigieren müssen. „Das ist“, sagte Conquest, „wenn Sie so wollen, die Tragödie meines Forscherlebens. Ich stammte aus einem eher linken Geistesmilieu und wollte lange einfach nicht glauben, was da im real existierenden Sozialismus tatsächlich passierte. Eine bittere Lehre.“

Die bittere Lehre machte ihn freilich auch resistent gegenüber allen Desinformationskampagnen der offiziellen Sowjetpropaganda und ihrer westlichen Nachbeter. Über persönliche Verunglimpfungen von dieser Seite konnte er nur lachen, so wenn etwa in Moskau akkreditierte „Kreml-Watchers“ in den großen Medien ausgerechnet die nüchterne Präzision seiner Bücher attackierten und sie als „Beweis“ für die angeblich fehlende Recherche „vor Ort“ hinstellten. In Wirklichkeit sei doch alles viel komplizierter, als Conquest es hinstelle.

Indes, sein „Great Terror“ erschien volle  fünf Jahre vor Solschenizyns „Archipel Gulag“, welcher für die internationale Kommunismusforschung fortan als eine Art Lackmustest für die Seriosität aller übrigen einschlägigen Publikationen galt – und Conquest durfte sich in allen von ihm mitgeteilten Details ausdrücklich bestätigt finden. Die Dauerhäme der angemaßten „Experten“ gegen seine Bücher wurde sehr kleinlaut. Am Ende blieb nur noch der beispielsweise von Kevin Tyner Thomas erhobene Vorwurf, daß Robert Conquest nicht unterscheide zischen einem politischen System einerseits und seinen „Entartungen“ andererseits.

Das System vernichtet die Kulakenklasse

In der Tat zeigt sich hier eine gravierende Differenz, doch die Überzeugungskraft der jeweiligen Argumentation liegt eindeutig auf seiten Conquests. Weder im „Großen Terror“ noch in der „Ernte des Todes“ wird silbenstecherisch unterschieden zwischen dem „guten“, weil systemkonformen Lenin hier und dem „bösen“, weil das System angeblich verratenden Stalin dort. Vielmehr liest man, wie im Spätherbst 1930 eine Truppe zwickerbewehrter Theoretiker des Marxismus-Leninismus in Stalins Moskauer Zentralkomitee herausfindet, daß es im Interesse des weiteren zügigen Aufbaus des Sozialismus notwendig sei, „die Kulakenklasse zu vernichten“.

Diese „Kulakenklasse“, darüber sind sich sämtliche Zwickerträger einig, sei ein Nährboden für ständig nachwachsenden Kapitalismus, sie weigere sich, in die Kolchosen einzutreten, und deshalb müsse sie vernichtet werden. Und so vernichtet man sie halt, nimmt ihr das Saatgut weg, erschießt ihre Patriarchen, treibt ihre Kinder zum Betteln auf die Straße – und richtet wie nebenbei die größte Hungerkatastrophe der Neuzeit an.

So, erfährt man, funktioniert moderner Terror eben. Kein Tyrann brüllt da blindlings herum, sondern ein komplett wissenschaftliches System wird in Gang gesetzt. Und Robert Conquest räsoniert nicht darüber, sondern erzählt es einfach und erreicht damit Herz und Verstand. Er war ein wahrhaft großer Historiker. Thukydides würde ihm die Hand reichen.