© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Der große Kolonialausgleich
125 Jahre deutsch-britischer Vertrag „über die Kolonien und Helgoland“
Dag Krienen

Im Dezember 1889 legte der Forscher Eugen Wolf Otto von Bismarck eine Karte von Afrika vor. Der Reichskanzler bemerkte dazu, sie sei sehr schön, aber seine eigene Afrika-Karte liege in Europa. Hier sei Rußland, dort Frankreich und mittendrin seien wir. Das sei seine Karte von Afrika. Und doch war es Bismarck – der  noch 1881 dem Reichstag versichert  hatte, daß Deutschland während seiner Regierungszeit keine Kolonialpolitik betreiben werde –, der den größten Teil des deutschen Kolonialbesitzes erwarb. Die „Weltpolitik“ nach 1890 fügte nur noch wenige kleine, meist unbedeutende Gebiete hinzu.

Bismarcks Kolonialpolitik war strikt seiner europäischen Großmacht- und Bündnispolitik ein- und untergeordnet. Nicht zufällig erfolgten seine kolonialen Vorstöße 1884/1885, als das Reich bündnispolitisch gut abgesichert und in Frankreich eine ausgleichswillige Regierung an der Macht war. Unter diesen Umständen glaubte der Kanzler, sich am „Scramble for Africa“, der Aufteilung des letzten noch freien Kontinents beteiligen und eine gewisse Verärgerung des liberalen Kabinetts Gladstone in London in Kauf nehmen zu können. Als sich die internationalen Konstellationen jedoch verschoben, suchte Bismarck wieder die Annäherung an London und den kolonialen Ausgleich mit den Briten. Das konservative Kabinett Salisbury erwies sich ab 1885 dafür als geeigneter Partner.

London und Berlin standen vor dem Problem, daß ihre jeweilige Landnahme in Afrika meist der Initiative von Privatleuten folgte. Konquistadoren-Gestalten wie Carl Peters auf deutscher sowie Henry Morton Stanley und William Mackinnon auf britischer Seite zogen auf eigene Faust los, um mit lokalen Häuptlingen „Schutzverträge“ abzuschließen, für die sie im nachhinein die Sanktion und die Protektion ihrer Regierungen zu erwirken suchten. 

Da diese Eroberer in der Heimat eine gewisse Unterstützung genossen, konnte sich ein Konflikt zwischen ihnen vor Ort durchaus zu einem ernsthaften Zerwürfnis in Europa entwickeln. Bismarck und Salisbury bemühten sich deshalb ab 1886 darum, durch eine Reihe von Verträgen zur Abgrenzung von Interessensphären eine Eskalation zu verhindern. Der von Bismarcks Nachfolger im Kanzleramt, General Leo von Caprivi, am 1. Juli 1890 abgeschlossene „Vertrag über die Kolonien und Helgoland“ stellte in gewisser Hinsicht den Abschluß dieser Entwicklung dar, der alle nicht nur in Ost-, sondern auch im übrigen Afrika noch bestehenden strittigen Territorialfragen klären sollte.

Sansibar galt bis 1890 als unabhängiges Sultanat

Dafür war ein wechselseitiger Verzicht auf bestimmte Ansprüche wie des deutschen auf Uganda und des britischen auf das Hinterland von Deutsch-Ostafrika nötig. Allerdings wurde Deutschland auch der Verzicht auf ein bereits anerkanntes Herrschaftsgebiet, das Protektorat über das kleine Sultanat Witu im heutigen Kenia, zugemutet. Das Angebot Londons, Helgoland an Deutschland abzutreten, stellte eine Kompensation für diesen Verzicht dar. Einen Verzicht auf die der ostafrikanischen Küste vorgelagerte Insel Sansibar sprach das Reich 1890 hingegen nicht aus, nur die Anerkennung eines britischen Protektorats über das dortige Sultanat, das bis dahin offiziell als unabhängig galt, faktisch aber schon lange unter britischem Einfluß stand. Als Gegenleistung sorgten die Briten für den Verkauf der bis dahin formal noch dem Sultanat zugehörigen ostafrikanischen Küste an die Deutschen.

Der deutsch-britische Vertrag von 1890 stellte eine umfassende Abgrenzung der kolonialen Interessengrenzen dar, mit wechselseitigem Verzicht vor allem auf vage Ansprüche und kaum etablierten politischen Besitz. Daß er dennoch als „Tauschvertrag“ Sansibar-Helgoland in das öffentliche Bewußtsein einging, hat mit den Reaktionen des kurz zuvor als Kanzler abgesetzten Bismarck zu tun, der sich einen Seitenhieb gegen seinen Nachfolger Caprivi nicht verkneifen konnte. 

Er hob gegenüber Journalisten und später in seinen Memoiren hervor, daß er den Vertrag so nicht abgeschlossen hätte, spielte den Wert Helgolands herunter und betonte die Aussichten, die Deutschland in Sansibar für die Zukunft besessen hätte, um so mehr. Der deutsche Handel und die deutschen Investitionen in Sansibar hatten in den Jahren vor 1890 tatsächlich einen gewissen Aufschwung genommen. An ein deutsches Protektorat über die Insel war angesichts der starken Stellung der englischen „Berater“ des Sultans aber kaum zu denken gewesen. 

Bismarcks Verkürzung des Vertrags-inhalts auf einen angeblichen Tausch Sansibars gegen Helgoland trug maßgeblich zur Einschränkung der öffentlichen Wahrnehmung auf diese beiden Punkte bei. Auch für die fixe Idee, daß es sich um einen unfairen Tausch gehandelt habe, bei dem die Deutschen über den Tisch gezogen worden seien, trug er eine gewisse Verantwortung. Die radikalen Kolonialenthusiasten griffen sie nur zu gerne auf. 

Sie ignorierten dabei, daß hinter Bismarcks Invektiven seine dynamische Vorstellung von einem ständig neu auszutarierenden europäischen Gleichgewicht stand, wo ein gewisses Maß an noch ungeregelten deutsch-britischen Fragen in Afrika durchaus nützlich sein konnte, um je nach Entwicklung der internationalen Lage die Briten ködern oder unter Druck setzen zu können.

Reichstag segnete Caprivis Pläne ohne Probleme ab

Politisch bewirkten die Bemerkungen Bismarcks und die Einwände kolonialistischer Ultras gegen den Vertrag zunächst wenig. Die Presse, die erst überwiegend erfreut, später nüchterner und teilweise skeptisch reagierte, übte nur in Einzelfällen heftige Kritik. Auch der Deutsche Kolonialverein hielt sich zurück. Caprivi konnte den Vertrag ohne Probleme durch den Reichstag bringen. Eine Gruppe von nationalistischen und imperialistischen Maximalisten, die sich schon einige Jahre zuvor gebildet hatte, nahm ihn indes zum Anlaß, den alsbald als „Alldeutsch“ bekannt gewordenen Allgemeinen Deutschen Verband zu gründen. Er blieb zunächst allerdings ohne großen Einfluß.

Die Idee, 1890 zu kurz gekommen zu sein, gewann erst einige Jahre später eine gewisse Brisanz, als sich das deutsch-britische Verhältnis verschlechterte und zugleich immer deutlicher wurde, daß die kurze Phase der kolonialen Landnahme Deutschlands bereits wieder zu Ende gegangen war. Zum Allgemeingut wurde sie aber anders als die Verkürzung auf den angeblichen Tausch der beiden Inseln nicht. Nach dem Ende der Kolonialreiche kamen viele Deutsche sogar zu der Überzeugung, daß die Briten das schlechtere Geschäft gemacht hatten. Sie hatten mit Sansibar keinen dauerhaften Besitz erworben, die Deutschen mit Helgoland hingegen schon.

Foto: Kaiser Wilhelm II. bei der feierlichen Flaggenhissung, Helgoland am 10. August 1890: Von einem Tausch mit Sansibar kann keine Rede sein