© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Wir dürfen die Flüchtlinge nicht abweisen, wir müssen sie alle auf „uns zukommen lassen“, „berührbar“ sein und auch „verwundbar“ – so tönt die Predigt des Sonntagsgottesdienstes im Deutschlandfunk. Schließlich sei Gott auch der „All-Erbarmer“, wie ihn unsere muslimischen Mitbürger nennten. Ich bin nicht gerührt, vielmehr schüttelt es mich ob dieser unglaublichen Realität, die gleich vor der Haustür beginnt. Vor dem Gemeindehaus der evangelischen Kirche, die im Herbst ’89 als Gotteshaus die zentrale Rolle spielte, sitzen zwei blutjunge autochthone Mädchen auf dem Bordstein – vom Balkon gegenüber hängt, schon seit einer halben Ewigkeit, ein Banner mit der in Blockbuchstaben geschriebenen Losung „Bleiberecht für alle!“ Auf der Rückseite der Jacke des einen Mädchens ist – in maximaler Größe – der schwarzweiße Stoffaufnäher „Good night / white pride“ plaziert, auf dem eine stehende Figur eine am Boden liegende zusammentritt. Hier wäre Zeit für einen Filmriß – denn sie wissen nicht, was sie tun. Ich denk bei mir: Good night, white bride! – Tage später begegne ich den zweien auf dem Gehweg. Die andere der beiden entpuppt sich als die Mutter.


Mein Nachbar erzählt mir von seinem Heimweg jüngst, als er mit jemandem über die Ausländerkriminalität und die horrenden Kosten des bestehenden Asylsystems telefoniert. Auf seine rhetorische Bemerkung: „Da frage ich mich, wieso werden die nicht rechtsradikal?“ reagiert ein vorbeilaufender junger Kerl ungefragt: „Das werden wir doch bald alle.“


Treffe zufällig eine Filmemacherin wieder, die gerade eine Dokumentation über den Schengenraum gedreht hat. Noch fürchte ich, sie könnte meine politische Haltung kritisieren. Doch ihr Kommentar nach den zahlreichen Erfahrungen und Begegnungen an den EU-Außengrenzen, der den Begriff „Flüchtling“ zur Farce werden läßt, ist entwaffnend: Der Begriff „Lügenpresse“ sei doch voll zutreffend. Bei dieser Entwicklung könne sie doch nur noch „rechts“ werden. Doch beide fürchten wir: Die politisch-korrekten Mitläufer unserer Gegenwart werden uns – wenn die nächste „Wende“ kommt – allesamt rechts überholen. Es ist tatsächlich tragisch: Die „rechte“ Gefahr, vor der die Politik permanent warnt, wird durch diese selbst produziert. Vorher aber lachen wir, die wir beide im sozialistischen System sozialisiert worden sind, gegen den Orwellschen Irrsinn an, als ich ihr vom jüngsten Appell des „Bundesfachverbandes unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge“ erzähle, von dessen Existenz selbst sie noch nichts wußte.