© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Pragmatismus und Systemfrage
Es geht um Alternativen
Thorsten Hinz

Zwischen Pragmatikern und Systemkritikern scheint ein unüberbrückbarer Graben zu klaffen und die Entscheidung eindeutig. Gerade in der Politik spricht alles für die Pragmatiker: Sie wissen, daß Rom nicht an einem Tag erbaut wurde und keine noch so schmissige Rhetorik es aus den Angeln hebt. Sie analysieren die Kräfteverhältnisse und gehen von den praktischen Gegebenheiten aus, konzentrieren sich auf das Machbare, bedenken die Folgen ihres Handelns, sind kompromißfähig und damit auch im persönlichen und beruflichen Leben erfolgreich. Man nennt sie auch: Verantwortungsethiker.

Den Systemkritikern geht es ums Ganze. Das konkrete Übel interessiert sie bloß als weiterer Beleg gegen das herrschende System, das auf falschen Begründungen beruht und unterminiert gehört. An ihrem Maximalismus halten sie auch um den Preis verprellter Mitstreiter fest. Im Zweifelsfall sind ihnen die Reinheit der Gesinnung und der emotionale Mehrwert einer Aktion wichtiger als das praktische Resultat. Synonyme Bezeichnungen für sie lauten: Gesinnungsethiker, politische Romantiker oder – schon weniger wohlwollend – Ideologen, Fundamentalisten, im schlimmsten Fall Extremisten und Staatsfeinde. Viele gelten als catilinarische Existenzen, also als Personen, die weder im Privaten noch beruflich etwas auf die Beine gestellt und deshalb nichts zu verlieren haben.

Doch ist der Unterschied in der Praxis wirklich so eindeutig? Und was bedeuten Begriffe wie „Systemkritik“ oder „Systemfrage“ überhaupt noch? Bis 1989 verlieh der Systemkonflikt zwischen Ost und West ihnen eine klare Kontur. Für die meisten Oppositionellen im Ostblock stellte das westliche Modell die ersehnte Alternative dar, während die Fundamentalkritiker im Westen zwar im real existierenden Sozialismus nicht leben wollten, dessen Antikapitalismus aber für eine zukunftsträchtige Potenz hielten. Dieser Konflikt wurde eindeutig entschieden. Heute stehen die Begriffe zumeist für eine diffuse Unzufriedenheit mit dem Parteienstaat, mit undurchsichtigen Macht- und Entscheidungsstrukturen und den Begleiterscheinungen der Globalisierung.

Die systemkritische Linke ist nach dem Verlust der antikapitalistischen Perspektive zum Pragmatismus konvertiert. Allerdings ist es ein Irrtum zu glauben, daß sie sich deswegen in reformistischer Sozialkritik erschöpft. Ihr kulturrevolutionärer Furor, der sich mit der magischen Zahl 1968 verbindet, wirkt weiter. Er richtet sich gegen das traditionelle Familienbild, die Geschlechteridentität, den Nationalstaat, gegen die europäische Welt, doch diesmal in Übereinstimmung mit dem „System“, das zu einer Funktion der neoliberalen Globalisierung mutiert ist und selber die Revolutionierung der Gesellschaft vorantreibt. Die Linke, statt Sand ins Getriebe zu streuen, liefert dazu die ideologischen Schmiermittel. Um dieser nützlichen Funktion willen wird sie auch dort, wo sie sich extremistisch und sogar gewalttätig gebärdet, nicht mehr als politisches Risiko wahrgenommen, sondern als Verbündeter gehätschelt.

Umgekehrt ergeht es den traditionell staatstragenden und systemkonformen Konservativen und Liberalkonservativen, die mit der Revolutionierung von Staat und Gesellschaft nicht einverstanden sind. Sie werden, sobald sie einen politischen Gegenentwurf in den Raum stellen, als Systemfeinde identifiziert. Alte Loyalitäten und Denkgewohnheiten hindern sie daran, Umfang und Qualität der Systemdeformation zu erfassen, so daß ihnen der Vorwurf unverständlich bleibt. Sie versuchen, die feindlichen Zuschreibungen durch Abgrenzungs- und Distanzierungsrituale zu widerlegen. Das führt sie in die Gefahr des Profilverlusts und auf jeden Fall in die Defensive, weil die Gegenseite die Definitionshoheit besitzt und die Zuschreibungen nach Gutdünken ausweiten kann.

Heute lautet die Frage, ob der Sieg der Demokratie über die Diktatur, der Markt- über die Zwangswirtschaft, nur eine konkrete Systemfrage beantwortet oder zugleich jeglicher Systemkritik die Grundlage entzogen hat. Der Konsens tabuisiert konkrete Mißstände.

Diese domestizierten Konservativen geraten in eine ähnliche Lage wie die Bürgerrechtler der DDR. Diese wurden von den Behörden ebenfalls als Staats- beziehungsweise Systemfeinde behandelt und ins Abseits gedrängt, obwohl sie sich als Ärzte am Krankenbett des Sozialismus begriffen und den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit zurückwiesen. Ihre Distanzierung vom Antikommunismus war keine strategische Mimikry, vielmehr bejahten die meisten aus tiefstem Herzen die Ideale und Prinzipien, auf die sich die Staatspartei berief. Ihre Kritik richtete sich allein gegen ihre falsche Umsetzung. Darin unterschieden sie sich von den Oppositionsgruppen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, die spätestens nach dem gewaltsamen Ende des „Prager Frühlings“ 1968 den Sozialismus für eine unreformierbare Fehlfunktion hielten und auf seinen Zusammenbruch viel besser vorbereitet waren.

Die Gründe für den Erkenntnisrückstand lagen in der deutschen Teilung, welche die DDR auch innerhalb des sozialistischen Lagers zu einem Sonderfall machte. Die Mauer demonstrierte die machtpolitischen Realitäten so unmittelbar und auf so brutale Weise, daß sie für unhintergehbar gehalten wurde. So setzte sie auch der politischen Phantasie eine Grenze und stutzte sie auf provinzielles Niveau zurück. Zog man in einem Gedankenexperiment von der „Volksrepublik Polen“ den Sozialismus ab, blieb der polnische Nationalstaat übrig. Eine bürgerlich-marktwirtschaftliche DDR hingegen wäre geschichtlich absurd gewesen. Die deutsche Wiedervereinigung aber würde die europäische und weltpolitische Tektonik entscheidend verändern, was Moskau, so dachte man, niemals zulassen würde. Das maximal Erreichbare war eine innere Reform der DDR auf sozialistischer Grundlage. Bestärkt in dieser Haltung wurden die Bürgerrechtler von der bundesdeutschen Linken, die sich die sozialistische Perspektive nicht nehmen lassen wollte.

Man hatte es also mit zwei ineinander verschlungenen Verdinglichungen zu tun: Sowohl die nationale Zwangslage – die Teilung – als auch die sozialistische Ideologie wurden als etwas Natur- beziehungsweise Schicksalhaftes begriffen, dessen Eigengesetzlichkeit sich nicht bezwingen ließ. Höchstens ließ der Modus ihres Vollzugs sich beeinflussen.

Dieser Ansatz erwies sich in intellektueller und politisch-strategischer Hinsicht als verfehlt und taktisch als wirkungslos. Die SED-Führung dachte nicht im Traum daran, in eine Reformdiskussion einzutreten und ihr Wahrheitsmonopol, auf dem die Legitimation ihrer Macht und des gesamten Systems beruhte, zur Disposition zu stellen. Als es 1989 dennoch in sich zusammenfiel, waren die Bürgerrechtler überrascht und überfordert von der Situation. Den verhinderten Pragmatikern, die partout keine Systemfeinde hatten sein wollen, kam mit dem System ihr Bezugsfeld abhanden. Paradoxerweise, doch wenig überraschend gehörten sie zu den letzten Verteidigern der DDR, ohne allerdings über den Machiavellismus der SED-Nachfolger zu verfügen.

Heute lautet die Frage, ob der Sieg der Demokratie über die Diktatur, der Markt- über die Zwangswirtschaft, nur eine konkrete Systemfrage beantwortet oder zugleich jeglicher Systemkritik die Grundlage entzogen hat. In den hegemonialen Diskursen erscheint die real existierende als beste aller möglichen Welten und somit alternativlos – es sei denn, man wolle Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand in Frage stellen.

Der Konsens, auf den man sich leicht einigen könnte, ist in dem berühmten Zitat von Winston Churchill ausgedrückt, wonach die Demokratie eine schlechte Regierungsform, aber besser als alle bisher erprobten sei. Was über diesen Konsens hinaus unter Diskussionsverbot gestellt wird, bedeutet eine Tabuisierung konkreter Zustände und eine neue Form der Verdinglichung. Sie schließt die Aufforderung ein, sich mit den Mißständen des Status quo zu arrangieren, sie als unabänderlich zu akzeptieren, anstatt nach den Ursachen zu forschen, falsche Entscheidungen und Weichenstellungen zu kritisieren und Alternativen vorzuschlagen.

Die Argumentation des Pragmatikers geht niemals ins Grundsätzliche. Er bleibt gefangen im Gehäuse der Suggestivformeln, die an ein kollektives Über-Ich appellieren, das sich aus der harten Politik in einen knallharten Moralismus zurückgezogen hat.

Die Probleme sind bekannt: die Euro-krise, die Energie- und Bildungspolitik, die ungesteuerte Masseneinwanderung und der Asylmißbrauch, Multikulturalismus, Islamisierung, EU-Zentralismus und Demokratiedefizite, die Bevormundung durch „Gender“- und andere neosozialistische Ideologien, die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten durch staatliche Überwachung, die schleichende Enteignung durch die umverteilenden Steuer-, Schulden- und Wohlfahrtsapparate, die Niedrigzinspolitik, das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, das die europäische Demokratie unter den Vorbehalt teurer Anwaltskanzleien stellen wird; die Macht der internationalen Finanzoligarchie usw. Auch der Streit um die Haltung zu Rußland als Bestandteil nationaler und europäischer Interessenpolitik und Selbstbestimmung gehört dazu.

Die politisch-mediale Klasse will – um nur drei Beispiele herauszugreifen – die Eurokrise durch immer neue, mit Solidaritätsappellen garnierte Rettungspakete beheben. Die „Flüchtlingsfrage“ beantwortet sie mit der Aufforderung zu einer neuen „Willkommenskultur“, und die Haltung zu Rußland definiert sie unter Hinweis auf eine expansionistische Politik Moskaus. Es ist ein ganzes System aus Sprachregelungen installiert worden, das die Erörterung der zentralen Konflikte von der politisch-sachlichen auf die moralische Ebene und in ein Gut-Böse-Muster überführt. Positiv besetzt sind neben der Solidarität und „Willkommenskultur“ auch Begriffe wie Vielfalt, Weltoffenheit oder westliche Wertegemeinschaft. Die negativen Bezeichnungen, die auf tatsächliche oder vermeintliche Systemkritiker gemünzt werden, lauten: antiamerikanisch, antiislamisch, antisemitisch, deutschnational, homophob, neutralistisch, zuwanderungs-, europa- und verfassungsfeindlich, putinfreundlich. Auf der nächsten Eskalationsstufe werden die derart Charakterisierten zu tendenziellen Nazis gestempelt.

Der kritische Pragmatiker tut alles, um nicht in diesen Ruch zu geraten. Seine Argumentation geht niemals ins Grundsätzliche. Er weist mit klugen Rechenexempeln nach, warum die geplante Euro- und Griechenland-Rettung nicht greift, doch er unterläßt es, die Kardinalfehler der Währungsunion und ihre politischen Gründe zu benennen. Er mahnt eine bessere Verteilung der Flüchtlinge an, ohne das Kernproblem, den „Youth bulge“ in Asien und Afrika und die Völkerwanderung, zu benennen. In bezug auf die Rußland-Sanktionen übt er eine ökonomisch begründete Detailkritik, geht aber nicht auf die geopolitischen Zusammenhänge und die Rolle Deutschlands und Europas als Schachfiguren in einem von US-Strategen konzipierten Spiel ein.

Er bleibt gefangen im eisernen Gehäuse der Suggestivformeln, die an ein kollektives Über-Ich appellieren, welches sich aus der harten Politik in einen knallharten Moralismus zurückgezogen hat. Daß ihr Moralismus wiederum einem größeren politischen Zusammenhang angehört und entsprechende Interessen transportiert, ist den Moralisten meistens gar nicht bewußt. Sie bleiben Schlafwandler in einem ideologischen System und gehorchen den verinnerlichten Regeln der jahrzehntelang bloß halbsouveränen Republik.





Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalismus. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über US-Geopolitik („Den Druck neutralisieren“, JF 13/14).