© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Digitale Sorglosigkeit ist weitverbreitet
Tagung: Wie sich der Verfassungsschutzpräsident ausländische Industriespionage zunutze zu machen versucht
Michael Paulwitz

Geheimdienste mögen keine Schlagzeilen. Bundesnachrichtendienst (BND) und Verfassungsschutz machen sie trotzdem, von der BND-NSA-Affäre bis zur Geheimnisverrats-Anzeige der Verfassungsschützer gegen die Informanten eines Netzportals. Das Mißtrauen gegenüber der Arbeit der Geheimdienste wird da kaum kleiner. Die Erfüllung einer ihrer Kernaufgaben, der Abwehr von Spionage und Sabotage gegen Deutschland und die deutsche Wirtschaft, gerät darüber ins Hintertreffen. Mit vernetzter Öffentlichkeitsarbeit gehen Deutschlands Nachrichtendienste in die Charmeoffensive und werben um das Vertrauen und die Mitarbeit der Unternehmen.

„Wir werden von den      Bürgern bezahlt“

„Wir werden von den Bürgern dieses Landes bezahlt und sind für sie da“ – wer solche Selbstverständlichkeiten mehrfach betonen muß, so wie Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen zuletzt auf dem Symposium Wirtschaftsschutz in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart, der ist erkennbar in der Defensive. 

Die Konferenz, auf der das Bundes- und Landesamt für Verfassungsschutz gemeinsam mit dem baden-württembergischen Innenministerium, dem BND und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) gegenüber Vertretern von Unternehmen, Wirtschaftskammern und Verbänden die Abwehr von Wirtschaftsspionage als „Herausforderung und Chance für Unternehmen“ präsentierten, ist Teil dieser Strategie, mit der die Nachrichtendienste ihr Image aufpolieren und zugleich für bessere Akzeptanz des nach Kritik aus Wirtschaft und Datenschutz überarbeiteten Informationssicherheitsgesetzes werben wollen.

Schaden durch Spionage bis zu 50 Milliarden Euro

Daß mehr getan werden muß, liegt auf der Hand. Beim Kampf gegen Wirtschaftsspionage sei Deutschland „Entwicklungsland“, monierte kürzlich der im Kriminaldienst erfahrene Sicherheitsexperte Christian Schaaf. Nach seriösen Schätzungen entsteht der deutschen Wirtschaft durch digitale Spionage und Sabotage ein jährlicher Gesamtschaden von bis zu 50 Milliarden Euro. 

BSI-Vizepräsident Andreas Könen weiß dazu mit drastischen Zahlen zu schockieren: Jede vierzigste Netzseite sei mit Schadsoftware infiziert. Einschlägige Bespitzelungsprogramme könne jeder für fünf US-Dollar die Stunde mieten. 54 Prozent der Unternehmen seien schon einmal von einem Cyber-Angriffsversuch betroffen gewesen. Und bis eine Attacke entdeckt werde, vergingen im Schnitt 243 Tage. 

Tapfer versuchte Maaßen, den Negativschlagzeilen aus BND- und NSA-Affäre, Kanzlerinnen- und Bundestagsausspähung Positives abzugewinnen: Die Zeiten der „Blauäugigkeit“ seien vorbei; der Verfassungsschutz, der immerhin seit 65 Jahren in diesem Geschäft tätig sei, sei für frühere Warnungen oft belächelt worden, obwohl Berlin auch nach dem Kalten Krieg Spionagehauptstadt geblieben sei. 

Das digitale Zeitalter habe der Spionage und Sabotage neue Wege eröffnet, ohne alte Operationsweisen obsolet zu machen. Digitale Spionage ist technisch ausgereift, anonym, effizient und schwer zu erkennen, und sie erlaubt auch Übeltätern mit geringen Machtmitteln, hochtechnisierte Staaten und Unternehmen anzugreifen.

„Digitale Sorglosigkeit“ ist dabei weitverbreitet, nicht nur bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, an die sich das Symposium in Baden-Württemberg mit seinen 400 Weltmarktführern vor allem richtete. Viren, Würmer, Trojaner, Hacking oder Botnetz-Angriffe sind dabei keineswegs die einzige unterschätzte Gefahrenquelle im Cyber-Zeitalter. Der „Innentäter“, der Know-how nach außen verrät, ist nach Meinung der Dienste noch immer die größte Gefahr – in mehr als zwei Drittel der Fälle führt die „Sicherheitslücke Mensch“ zum Geheimnisverrat. 

Der Klassiker, der leichtsinnige oder frustrierte Mitarbeiter, der sich wissentlich oder unwissentlich abschöpfen läßt, hat noch immer nicht ausgedient, allgegenwärtiger Smartphone-Gebrauch und die Geschwätzigkeit der sozialen Netzwerke machen es aber um so leichter, lohnende Ziele zu identifizieren. Ganz zu schweigen vom sorglos auf Geschäftsreisen mitgenommenen Datenträger oder Mobiltelefon mit randvoller Kontaktliste, vom unüberlegt an Lieferanten weitergereichten Produktionswissen oder Lizenzvertrag, vom IT-System ohne eigenen Sicherheitsplan – mehr als die Hälfte, schätzt Maaßen – oder von restriktiven und geordneten Zugriffsrechte.

Regierung zwingt Firmen zur Kooperation 

Maaßens Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz präsentieren sich dabei als uneigennützige Berater und Partner der Wirtschaft. Fast flehentlich appellieren Maaßen, die baden-württembergische VS-Landes-chefin Beate Bube und Innenminister Reinhold Gall (SPD) an die Unternehmer, Vorfälle zu melden, und sichern Vertraulichkeit zu. Sicherheit sei nicht Kostenfaktor, sondern Standortvorteil; die Abwehr von Schäden durch Wirtschaftsspionage könne nur in Kooperation von Wirtschaft und Diensten gelingen. 

Das zielt auf die nach wie vor vorhandenen Widerstände gegen das im Juni verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz, das das in der „Allianz für Cyber-Sicherheit“ etablierte freiwillige Meldeverfahren für Sicherheitsvorfälle verbindlich machen will und insbesondere Betreibern von „Kritischer Infrastruktur“ umfangreiche und sanktionsbewehrte Auflagen vorschreibt. 

Gegen US-Spionage nur „angezogene Handbremse“

Wer aber sind die bösen Buben? Rußland, China, Iran und Nordkorea. VS-Präsident Maaßen nennt die üblichen Verdächtigen, denn deren Dienste seien vom Staat sogar zur Wirtschaftsspionage verpflichtet. US-Spionage-Aktivitäten sind für Maaßen dagegen nur „angeblich“. Vertrauen baut er so kaum auf, wenn zeitgleich neue Meldungen über amerikanische Ausspähversuche gegen den europäischen Rüstungs- und Luftfahrtkonzern EADS die Runde machen. Die US-Attacken seien „nicht beweisbar“, präzisiert Maaßen auf Nachfrage, und selbstverständlich schützten die Dienste Deutschland vor allen Ausspähversuchen, egal ob russischen, chinesischen oder amerikanischen. Bei letzteren scheint allerdings nach wie vor das Prinzip „angezogene Handbremse“ zu gelten, wenn der Generalbundesanwalt trotz manifester Hinweise auf die Ausspähung selbst von Kanzlern und Politikern nicht einmal einen „Anfangsverdacht“ schöpft, aber auf die Strafanzeige des Verfassungsschutzpräsidenten hin sofort Journalisten mit Ermittlungen wegen „Landesverrats“ überzieht.