© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Im Dienste der Untertanen
Eingaben an das Parlament: Der Petitionsausschuß des Bundestages wirkt wie ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten
Felix Lehmann

Hausbesuch bei Martha H. „So viele Männer, da krieg’ ich ja Angst!“ sagt die ältere Frau halb aus Spaß, halb aus Verwunderung über den unerwarteten Besucheransturm. „Nachkriegsgeneration, kann ich verstehen!“ kommt es von einem Abgeordneten trocken zurück.

Wallenhorst in Niedersachsen, Ende Juni. Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages ist zu einem seiner seltenen Außentermine in einen Vorort von Osnabrück gefahren. Anwohner nahe der Autobahnauffahrt zur A1 beschweren sich seit Monaten über Verkehrslärm der Autobahn. Für den Petitionsausschuß ein willkommener Anlaß, vor Ort Bürgernähe zu demonstrieren. Ein Troß von 30 Personen versammelt sich im nahe gelegenen Wohngebiet, um die Situation mit den Anwohnern zu erörtern. Neben Mitgliedern des Petitionsausschusses des Niedersächsischen Landtags sind auch Behördenvertreter von Bund, Land und Kommunen vor Ort.

 Dabei kommt es selten vor, daß der Petitionsausschuß das „Raumschiff Berlin“ verläßt. Bei bis zu 20.000 Petitionen im Jahr sind Ortstermine die große Ausnahme – es gib meist nicht mehr als zwei oder drei im Jahr. Doch die Petenten in Wallenhorst, die sich im Januar 2014 an den Ausschuß gewandt hatten, haben Glück: Beschwerden über Straßenlärm interessieren den Petitionsausschuß besonders – die Chancen eines Vor-Ort-Besuches sind hier höher. Trotzdem hat es lange gedauert, bis der Bundestag zu Besuch kam. Nach der Bundestagswahl Ende 2013 mußte der neu konstituierte Petitionsausschuß zunächst alle alten Petitionen aus der abgelaufenen Legislaturperiode aufarbeiten.

Wo drückt der Schuh in Wallenhorst? Im Garten von Frau H. wird das Problem offenbar: Die Tempo-100-Zone endet genau vor ihrem Haus, das direkt an der Autobahn liegt. Mit der Geschwindigkeitsbegrenzung hört auch die Lärmschutzwand auf. Genau auf Höhe des Hauses wird dann richtig beschleunigt. Im Garten ist es so laut, daß man fast sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann. Vor allem die LKWs sind das Problem. Und wenn diese dann auch noch bei voller Fahrt den Begrenzungsstreifen der Fahrbahn überqueren, wird es richtig laut.

 Das Grundgesetz ist antiplebiszitär ausgerichtet. Die direkte Bürgerbeteiligung über Volksabstimmungen sollte bewußt vermieden werden. Als Ausgleich war das Petitionsrecht gedacht. 

Mit der Handy-App dem Lärm auf der Spur

1975 wurde das Recht auf Bitten und Beschwerden an den Bundestag noch einmal aufgewertet: Der Petitionsausschuß erhielt erweiterte Befugnisse, die an die Kompetenz des Untersuchungsausschusses heranreichen. Seit 2005 sind zudem Online-Petitionen möglich. Doch rechtlich erzwingen läßt sich durch eine Petition nichts. Im besten Fall erreicht ein Petent, daß sein Anliegen in einer Plenardebatte des Bundestages Gehör findet und an die Bundesregierung weitergeleitet wird.

 Zurück nach Wallenhorst: Bei der anschließenden Erörterung beraten die Abgeordneten, wie es nun weitergehen soll. Vielleicht hilft erst einmal ein neues Lärmgutachten. Denn die Berechnungen der Lärmbelästigung, die für Lärmschutzmaßnahmen erforderlich sind, werden nur theoretisch am Schreibtisch berechnet. Kein Planer des Verkehrsministeriums prüft vor Ort, wie hoch die Lärmbelästigung tatsächlich ist. Die amtlichen Grenzwerte, die für den Bau von Lärmschutzmaßnahmen überschritten sein müssen, betragen in Wohngebieten 57 Dezibel. Oder ist die Wohngegend nicht eher ein Mischgebiet, das zum Teil aus bewohntem, zum Teil aus unbewohntem Gelände besteht? Das nahe gelegene kleine Waldstück ließe darauf schließen. Hier würde erst ein Grenzwert von 69 Dezibel greifen.

Die Vertreter des Petitionsausschusses kommen nicht unvorbereitet. Stephan Kühn, Fraktionsmitglied der Grünen, hat auf seinem Handy eine Lärm-App installiert. Und der Anwohner hat Glück: Bis zu 80 Dezibel Verkehrslärm stellt Kühn fest. Mediziner würden sagen, daß hier eine nicht unerhebliche Lärmbelästigung vorliegt, die vielleicht gar gesundheitliche Schäden nach sich ziehen könnte.

Nach Recht und Gesetz ist die Verlängerung der Lärmschutzwand geboten. Der Anwohner des Hauses Nummer 10 hat leider weniger Glück: Obwohl er sich massiv durch den Lärm gestört fühlt, werden die Grenzwerte auf seinem Grundstück nicht überschritten. Vielleicht geht er leer aus, wenn die neue Lärmschutzwand eines Tages gebaut werden sollte. Denn bei allem Respekt vor den Interessen der Bürger muß der Bundestag natürlich auch das Gebot der Wirtschaftlichkeit berücksichtigen: 400 Meter Lärmschutzwand kosten 600.000 Euro. Ganz anders läge der Fall übrigens, wenn es sich um eine neue Straße gehandelt hätte: Aufgrund neuer Rechtsvorschriften müssen neue Autobahnen mit ausreichendem Lärmschutz versehen werden. Doch der Autobahnabschnitt in Wallenhorst ist eine bestehende Straße. Wieder Pech gehabt. Hier gilt der Rechtsanspruch nur „nach Kassenlage“, wie Herbert Behrens von der Linkspartei feststellt. Eine schwierige Situation. „Sie sehen uns ratlos. Eine schnelle Lösung wird es nicht geben“, dämpft Gero Storjohann, der verkehrspolitische Sprecher der Unionsfraktion, die Erwartungen. Vielleicht könnte es helfen, die Berechnungsmodelle zu ändern, schlägt ein Vertreter der niedersächsischen Behörden schließlich vor. Er verspricht, den Sachverhalt den Ministerien zur Kenntnis zu geben mit der Bitte, die Berechnungsgrundlagen zu prüfen. 

Doch bleibt die Politik auch am Ball? Storjohann erläutert den Weg der Petition: Die Petition wird zunächst in die vier Fraktionsarbeitskreise gegeben, bei positiver Prüfung geht sie dann an die Ausschüsse, die eine Beschlußvorlage erstellen. Läuft alles rund, kann der Bundestag bis zum Herbst eine Entscheidung treffen. Sofern nicht etwas dazwischenkommt. Denn 2017 sind wieder Bundestagswahlen, und der Petitionsausschuß muß sich aufs Neue konstituieren.

Nur wenige Eingaben werden weitergeleitet

 Der Abgeordnete Behrens bringt einen anderen Vorschlag ins Gespräch: Eine Geschwindigkeitsbegrenzung würde nicht nur den Verkehrslärm verringern, sondern auch die Feinstaub-emissionen, und wäre zudem auch noch klimafreundlich. Die Vertreter des Bundestages sind sich einig: Zunächst soll kurzfristig die Tempo-100-Zone in Wallenhorst verlängert werden. Später soll es dann neue Lärmberechnungen geben, damit konkret geprüft werden kann, ob eine neue Lärmschutzmauer tatsächlich notwendig ist.

Der Anfang Juni an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) übergebene aktuelle Jahresbericht des Petitionsausschusses veranschaulicht, welchen Stellenwert Petitionen der Bürger für das Parlament haben. Von den mehr als 15.000 Eingaben, die der Ausschuß im vergangenen Jahr erhalten hatte, wurde lediglich eine einzige Petition „zur Berücksichtigung“ an die Bundesregierung weitergeleitet, also der Empfehlung, dem Anliegen zu entsprechen. 31 weitere wurden „zur Erwägung“ weitergeleitet. Für alle anderen Petitionen unternahm der Ausschuß keine weiteren Schritte, das Anliegen zu bearbeiten.