© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

„Die Ehe ist ein Erfolgsmodell“
Immer weniger Deutsche heiraten, immer offensiver werden alternative Partnerschaftsmodelle propagiert. Die Ehe scheint im Niedergang begriffen. Falsch, meint der französische Philosoph Bertrand Vergely, die Ehe ist unser Potential
Moritz Schwarz / Luisa Brilla / Cornelius Persdorf

Herr Professor Vergely, unsere moderne Gesellschaft leidet unter einer sinkenden Zahl von Eheschließungen. Warum?

Vergely: Erstens, die allgemeine Soziologie der Familie. Zweitens, das, was die Ehe ausmacht. Drittens, das, was die Ehe heute ausmacht.

Wie bitte?

Vergely: Soweit es um die Soziologie der Familie im allgemeinen geht, kann man nicht von einem Niedergang sprechen.

Aber in Deutschland sinkt die Zahl der Eheschließungen: 2013 war sie mit rund 370.000 – bezogen auf 1.000 Deutsche –  weniger als halb so hoch wie 1950. 

Vergely: In Frankreich erleben wir ein Hoch hinsichtlich des Interesses an der Familie. In einer hektischen Welt verkörpert sie Sicherheit, ist ein Zufluchtsort.

Familie und Ehe sind nicht dasselbe. 

Vergely: Dann lassen Sie uns Ehe definieren. Diese setzt sich aus drei Elementen zusammen. Das erste ist objektiv und schlicht wirtschaftlich: Der Mensch muß sich notwendigerweise reproduzieren, und die Ehe ist das Format, dies kulturvoll zu tun. Die menschliche Reproduktion kann sich schließlich nicht irgendwie gestalten, sondern es gibt Regeln, die formgebend wirken. Diese Regeln sind gesellschaftlich geprägt. 

Durch die Institution Ehe verheiratet man sich also nicht nur untereinander, sondern auch mit der Gesellschaft?

Vergely: Eben. Der zweite Aspekt der Ehe ist subjektiv und eine Frage des Gefühls. Man verheiratet sich mit der Person seiner Wahl. Die Ehe wird damit zur Besiegelung des Bundes zweier Individuen. Der dritte Aspekt ist mystisch: Es handelt sich nicht nur um eine Ehe gegenüber der Gesellschaft und auf Basis von Gefühl und Liebe, sondern außerdem im Angesicht Gottes. Gott hat zur Menschheit eine Verbindung der Hingabe. Die mystische Ehe vollendet diese göttliche Ehe in einer menschlichen Dimension. Sie deutet durch die Hochzeit hienieden die höhere Hochzeit an.

Ob dieser Aspekt für das Durchschnittsbrautpaar von heute noch eine Rolle spielt? 

Vergely: Gut, lassen Sie uns von der aktuellen Situation sprechen: Sie ist konfus!

Wieso konfus? 

Vergely: Der zweite Aspekt – Gefühl und Liebe – hat den ökonomisch-gesellschaftlichen und den religiösen in den Hintergrund gedrängt. Das ist der Grund für den Niedergang der Ehe!

Inwiefern? 

Vergely: Gleich – lassen Sie mich zuvor kurz ausholen: Wenn man Liebe will, will man Leidenschaft. Will man Leidenschaft, verheiratet man sich aber nicht mehr vor dem Standesbeamten oder vor Gott, man verheiratet sich überhaupt nicht. Man lebt im Modus des Liebespaares in der Hoffnung, daß dieser fortdauert. Jetzt die Antwort auf Ihre Frage: Die Konsequenz dieser Veränderung bedeutet einerseits große Freiheit, gleichzeitig aber auch tiefgreifende Verunsicherung, da das Band des Paares nicht mehr sozial oder religiös verflochten ist, sondern dem Grad der Leidenschaft überlassen bleibt – sprich, es ist deren Fragilität ausgeliefert. Solange sie kraftvoll ist, hat der Bund bestand. Ist sie erloschen, zerbricht er. Daher rühren die Phänomene, die wir heute beobachten: Vervielfachung der Scheidungen, zerbrochene Familien, Alleinerziehung, Verlassensein, Einsamkeit, Leiden, Hoffnungslosigkeit, manchmal Selbstmord.

Die alte Ehe funktioniert nicht mehr – die neue hat oft keinen Bestand. Erweist sich die Ehe also als eine Fehlkonstruktion? 

Vergely: Nicht die Ehe ist eine Fehlkonstruktion, sondern das Drumherum, das heißt die Art, wie sie gelebt wird. Wenn man respektiert, daß es neben dem Band der Liebe eine soziale Verantwortung und ein göttliches Mysterium gibt, ist sie in keiner Weise fehlerhaft. Im Gegenteil! Sie ist Quelle der Pflichterfüllung. Alles verdirbt, wenn gesellschaftliches Interesse, der ideologische Konformismus oder auch noch die Liebschaften mit ihrer Vergänglichkeit zum Maßstab werden. Das Chaos hält Einzug, wenn das Gesetz, die Liebe und das Mysterium nicht mehr existieren.

Sie meinen also, im Grunde ist die Ehe ein Erfolgsrezept? 

Vergely: Aber natürlich! Die Ehe verkörpert die Erfüllung der Menschheit über drei Stadien hinweg. Das erste ist das der Ordnung, das des Reglements von Leben und Tod. Wenn die Menschheit ihre Toten begräbt, regelt sie ihr Verhältnis zum Tod. Wenn sie den Inzest verbietet, regelt sie ihr Verhältnis zum Leben und zur Reproduktion. Die Ehe schreibt sich in dieses Regelwerk des Lebens und des Todes ein. Ehelichen bedeutet nicht Gefolgschaft gegenüber Vater und Mutter, sondern gegenüber jemandem, der Teil einer anderen Familie ist. Die Evolution der Menschheit beruht auf diesem Prinzip. 

Die Ehe hat einen evolutionären Aspekt?  

Vergely: Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja. Lassen Sie es mich aber anthropolgisch fassen: Die Ehe erlaubt, aus dem Stammesverband, der Anarchie und der Leere auszubrechen. Im Stammesverband werden die Kinder von allen aufgezogen, es herrscht das Gesetz der Gruppe. Dort gibt es keine Privatsphäre, das Hauptziel ist das kollektive Überleben. In der Anarchie dagegen macht jeder, was er will. Als Folge davon werden die Kinder überhaupt nicht erzogen. Schließlich: ohne spirituelles Erwachen haben die Dinge keinen tieferen Sinn. Irgend etwas fehlt. Eine Ausstrahlung. Man ist von Leere umgeben. Es ist wichtig, in einer Welt zu leben, in der es Ordnung, Liebe und Sinn gibt. Man lebt ein schönes Leben. In diesem Sinne ist die Ehe ein anthropologisches Erfolgsmodell.

Kritiker widersprechen, tatsächlich sei die Ehe lediglich gesellschaftliche Konvention.

Vergely: Hören wir auf, alles zu verwirren! Wenn es Bräuche und Kultur im Zusammenhang mit der Ehe gibt, gibt es im Kern immer Mann und Frau, die gemeinsam mit dem Kind das ergeben, was Rousseau die „natürliche Familie“ nennt, diejenige, die vom Leben gegeben und von der Kultur konstruiert wird. Die Konvention geht dem Leben nicht voran, sie folgt ihm. Man ist Mensch, bevor man Bürger wird, der die Konventionen etabliert. Die Partisanen des „Alles ist nur Konvention“ vergessen dies. Für sie existiert das Leben nicht. Die Natur existiert nicht. Wenn alles Kultur ist, ist meine Kultur die Natur. Die Naturalisierung der Kultur ist kein Zufall. 

Der Historiker Steven Mintz wirft ein, die traditionelle Ehe, die Sie beschreiben, sei tatsächlich erst zweihundert Jahre alt. 

Vergely: Die Auffassung, die Mintz vertritt, ist in Frankreich entwickelt worden und zwar von Phillippe Ariès in seinem Buch „Geschichte der Kindheit“ und spielt in bemerkenswerter Weise auf einen Zug der modernen Gesellschaft an, nämlich das Erscheinen der Privatsphäre mit dem Eingrenzen des Familienlebens rund um das Dreieck Vater-Mutter-Kind. Das stellt in der Tat eine Veränderung im Vergleich zum vorher bestehenden Familienbegriff dar, der von der Hausgemeinschaft der Großfamilie geprägt war. In der privaten Familie lebt man dagegen enger verknüpft. Das Leben privatisiert und die Kultur sentimentalisiert sich. Äußere Aspekte wandelten sich, der Erfolg des Konzeptes Ehe blieb. 

Wenn die Ehe tatsächlich ein solches Erfolgsmodell ist, warum erscheint sie uns dann heute als Auslaufmodell?

Vergely: Weil das liberal-libertäre Modell mit seinem Freiheitskult die europäische Kultur dominiert – und sich anschickt, die Weltkultur zu dominieren. Verknüpfen Sie den Marktmaterialismus – der nichts sucht, was nicht verkäuflich ist – mit dem libertären Individualismus – der alles im Namen der absoluten Freiheit anzweifelt – und, voilà, Sie haben den Zusammenbruch der Ehe! Um einem Modell wie der Ehe zu folgen, muß man die Existenz eines Gesetzes der Harmonie zugestehen und ihm gehorchen. Weder Marktmaterialismus noch libertärer Individualismus sind dazu bereit.

Was bedeutet das für die Zukunft unserer Gesellschaft?

Vergely: Ich fürchte, Chaos. Wenn die Ehe nicht mehr existiert, macht jeder, was er will – und die Gesellschaft wird immer weiter daran herumwerkeln. In den USA hat eine Frau bereits sich selbst geheiratet. Es gab einen offiziellen Akt, diese Ehe im Namen der Liebe anzuerkennen. Das ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Ehe keinen anderen Maßstab mehr hat als die Phantasie jedes einzelnen.

So etwas dürfte allerdings Ausnahme bleiben – anders als etwa die gleichgeschlechtliche Ehe beziehungsweise die „Ehe für alle“.

Vergely: Die sogenannte Homo-Ehe ist das Ergebnis einer komplexen ideologischen Situation. Unter den Homosexuellen pocht ein Teil keineswegs auf das Recht zu heiraten, sondern will einfach ein Leben ohne Verfolgung und ihrem Gefühl entsprechend führen. Ein weiterer Teil fordert, von Rechten zu profitieren, die traditionell heterosexuellen Paaren gewährt werden, wie materielle Vorteile. Lediglich eine dritte Gruppe fordert, Familien gründen und Kinder bekommen zu können. Das ist eine Utopie. Damit sie Wirklichkeit wird, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Erstens, eine Menschheit zu fabrizieren, die das kann, also Frauen mit einem Penis und Männer mit einem Uterus zu züchten.

Klingt eher unwahrscheinlich.

Vergely: Täuschen Sie sich da nicht. In England ist der Arzt Robert Winston bereits dabei, die männliche Schwangerschaft durch die Umformung eines Stücks Darms in einen Uterus möglich zu machen. Die zweite Möglichkeit ist, künstliche Befruchtung für lesbische Frauen sowie Leihmutterschaft für homosexuelle Männer gesetzlich zu autorisieren. Derzeit existiert im Westen eine sehr starke Lobby für diese Variante. Sollte sie sich durchsetzen – was aufgrund ihrer Stärke nicht unwahrschinlich ist –, ist es allerdings nicht die klassische Ehe, die in Frage gestellt werden wird.

Sondern?

Vergely: Es wird vielmehr die Norm der Reproduktion der Menschheit selbst in Frage gestellt werden. Und zwar durch die Dekonstruktion der drei Elemente, die diese bisher definierten haben: Erstens, der geschlechtliche Unterschied zwischen Mann und Frau. Die Norm wird fortan nicht die Differenz, sondern die Indifferenz sein. Zweitens, die Zerstörung des Paares Vater-Mutter. Drittens, die Abstammung Kind-Eltern. Ein Kind, welches durch künstliche Befruchtung oder Leihmutterschft entstand ist, weiß nicht mehr, wer seine biologische Mutter und Vater sind. Anders gesagt, das Projekt „Homo-Ehe“ ist nicht die Wiederbelebung der Ehe, sondern die Machtübernahme einer Lobby, die nicht alle Homosexuellen vertritt und durch sexuelle Entdifferenzierung eine neue Menschheit anstrebt.

Aber wenn homosexuelle Menschen vor der Gesellschaft, in Liebe und mit religiöser Überzeugung eine Ehe eingehen, erfüllt dann die Homo-Ehe nicht alle von Ihnen genannten Kriterien – und ist folglich trotz allem tatsächlich eine richtige Ehe? 

Vergely: Die Homo-Ehe ist eine ausgesprochene Montage – und keine echte Ehe oder falsche Ehe. Sie ist ein Meisterwerk der gelungenen Manipulation von Gesetz, Kultur und Meinung. Schauen wir in die Vergangenheit: die Achtundsechziger-Bewegung. Worum ging es? Um linke, extrem linke oder feministische Bewegungen, die das Ziel hatten, die Familie ebenso wie die Ehe – diese bürgerlichen und kapitalistischen Institutionen – auszumerzen. Die Inspiration dazu kam von Friedrich Engels und seinem Buch „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, in dem er die Ehe als die schäbige Art der Männer denunzierte, sich des Besitzes der Frauen zu bemächtigen. In dieser Epoche erforderte Homosexualität, nicht zu sein „wie alle“, sondern ein Anderssein, indem man sich zu einer rebellischen Sexualität bekannte. Was erleben wir dagegen heute? 

Eine ganz andere Situation. 

Vergely: Ich würde sogar sagen, einen geradezu spektakulären Wandel: Die Linke und extreme Linke, die damals Ehe und Familie zerstören wollten, geben vor, sie zu verteidigen! Keine Rede mehr davon, in ihnen die Institutionen zu sehen, die die Sexualität verleugnen. Und die Homosexuellen, die für die Ehe kämpfen, wollen nicht mehr „anders“ sein, sondern sie wollen sein „wie alle“.

Warum?

Vergely: Manche meinen, daß Aids der Grund für dieses Aufwachen sei, da es diese Art, Sexualität zu leben, zum Risikoverhalten werden ließ. Vor allem gibt es aber eine politische Strategie, die versucht, die ideologische Macht zu erobern, indem sie das Feld der Sitten vereinnahmt. Die Ehe wurde immer als konservative Institution angesehen – und plötzlich wird sie revolutionär! Diese Mutation erklärt sich dadurch, daß es nicht eigentlich die Ehe ist, um die es geht, sondern die Destruktion des Geschlechtsunterschiedes, des Paares aus Mutter und Vater sowie der Abstammung. Eine Destruktion, die die Libertären, nach Revolution lechzend begeistert. Und auf die die Industrie-lobby der Westküste der USA erpicht ist, um uns den Mann mit einem Uterus zu verkaufen oder – besser noch – die zur Selbstbefruchtung fähige Frau. 




Professor Bertrand Vergely, der Philosoph, Jahrgang 1953, lehrt am Pariser Institut für politische Studien sowie am Institut für Theologie Saint-Serge. Er tritt immer wieder im französischen Radio und Fernsehen auf und veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt: „Die Versuchung des Mensch-Gott“ (2015). Zudem publiziert er in der führenden konservativen Tageszeitung Le Figaro. 2013 sorgte er mit dem Essay „Die ’Ehe für alle‘ oder die Diktatur der Verwirrung“, der in der Internetausgabe der linksliberalen Tageszeitung Le Monde erschien, für Aufmerksamkeit. 


 

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