© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Mach das Navi aus
Vom Humboldt der Häuserwüste: Sich verlaufen will gelernt sein
Bernd Rademacher

Die Großstädter sind in Eile. Sie wimmeln durch die Infrastruktur, auf dem Weg von A nach B. Aber was wäre, wenn es gar kein B gäbe? Diese Frage stellte sich Ellen Keith aus San Francisco. Einfach ziellos drauflos schlendern, in unbekannte Straßen einbiegen, sich in der Stadt verlaufen wie im Wald. Für die Generation Navi eine ziemlich ungewöhnliche Idee. Inspiriert wurde die Amerikanerin vom deutschen Philosophen Walter Benjamin und dessen Erinnerungen an seine Kindheit in Berlin um 1900. Wie ein neugieriges Kind, das den Schulweg vergißt und sich träumend vom Gewirr der Stadt anziehen und treiben läßt, will sie das Flanieren neu erlernen. Ohne GPS, ohne Routenfinder, ohne Stadtplan. Ihre Idee propagiert sie mit der „Flaneur Society“ und sagt: „Geh auf Safari in der Stadt.“

Ohne Ziel und Zeitgefühl, analog und offline

Aus dem Gedanken ist eine kleine Bewegung geworden, die abseits der touristischen Trampelpfade authentische Erlebnisse sucht. Folgen Sie nicht dem Satellitensignal, folgen Sie den Geräuschen, Gerüchen und Menschenströmen. Sich zu verirren will gelernt sein: Die Profi-Flaneure raten, einfach den nächsten Bus zu nehmen und an der zwölften Station wieder auszusteigen. Dann nach links gehen – und sehen, wo man landet ... Auf dem Blog der „Flaneur Society“ hinterlassen die Entdecker Bilder urbaner Gestade, an die der Zufall sie getrieben hat. Aber ein wahrer Flaneur trägt natürlich kein Mobiltelefon bei sich!

Wie Walter Benjamin vor hundert Jahren einfach durch die Metropole schlendern, ohne Ziel, ohne Zeitgefühl, ganz analog und offline, das erfordert Mut vom modernen Menschen. Ohne Smartphone und seine vielen nützlichen Apps fühlen wir uns unsicher und unvollständig. Dabei verlernen wir, unsere Umgebung bewußt wahrzunehmen. Statt unserer Sinne nutzen wir Google Maps. Tatsächlich haben Forscher nachgewiesen, daß Navigationsgeräte den natürlichen Orientierungssinn schwächen. Umwege dagegen erhöhen die Ortskenntnis.

Einige kommerzielle Anbieter haben die Idee der urbanen Safari aufgegriffen, um eigene Apps anzubieten, die Anleitungen für Zufallsrouten beinhalten. Brauchen die Stadtmenschen jetzt schon eine App, um nicht aufs Smartphone starren? Wie absurd! Studenten der Berliner Humboldt-Uni pumpten den Hipster-Trend gar mit einer Ausstellung zur „Rückeroberung der Großstadt“ auf. Eine politische Rechtfertigung für Müßiggang.

Verwechseln Sie den Flaneur nicht mit einem bloßen Spaziergänger oder gar einem Passanten! Proto-Flaneur Benjamin beschrieb das Abenteuer des Verlorengehens im Berliner Tiergarten: „Ich suche nach dem bärtigen Apoll unseres Kinderspielplatzes. Ich finde ihn nicht. (...) Durch einen Seitenweg schimmert von der Sieges­allee herüber ein Stückchen Markgraf. Ich laß es von fern locken, werde mich wohl hüten, hinüberzugehen. (…) Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich zur Rousseau- oder Luisen-Insel kommen werde. Und glücklich verirrt, stehe ich mit einmal vor dem Apoll, den ich nie wiedergefunden hatte seit Jahren.“

So wird der Flaneur zum Forscher und Entdecker, zu einem Humboldt der Häuserwüste. Vorausgesetzt, er hat genügend Zeit – das knappste Luxusgut unserer Tage. Solche Expeditionen führen uns wieder zur wachen Wahrnehmung zurück, schärfen die Sinne und fördern die räumliche Orientierung. Allerdings haben die Enthusiasten eines nicht bedacht: Sich zu verlaufen in „No-go-Areas“ ist nicht sehr zu empfehlen ...