© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Auf dem Spielfeld der Mächte
Amerika und Rußland: Der neue Kalte Krieg ist kein weltpolitischer Gegensatz, sondern lediglich ein Regionalkonflikt
Hans Brandlberger

Frieden und Stabilität in Europa lassen sich nur mit und nicht gegen Rußland verwirklichen. Diese Binsenweisheit, die seit den neunziger Jahren in kaum einer Sonntagsrede zur Sicherheitspolitik fehlte, hat durch die Ukraine-Krise eine eigentümliche Bestätigung gefunden. Die Hoffnung, Moskau werde, was immer im postsowjetischen Raum auch geschehe, letztlich lieber klein beigeben, als die konstruktiven Beziehungen zum Westen aufs Spiel zu setzen, ist nun allerdings der ernüchternden Einsicht gewichen, daß es offenbar doch eine rote Linie gab, die spätestens mit dem Maidan-Aufstand in Kiew und dem Sturz des russophilen Autokraten Janukowitsch überschritten worden ist.

Stabilität für Putin wichtiger als Demokratie

Die plumpe Retourkutsche des Kreml, die Krim im Handstreich zu annektieren und in der Ostukraine bewaffnete Separatisten zu unterstützen, fügte sich in das Bild, das der Westen traditionell von Rußland hat und auch nach dem Ende der Sowjetunion nie ganz verblaßt ist. Moskau, so scheint die historische Erfahrung zu lehren, hält sich nicht an internationale Vereinbarungen, bricht das Völkerrecht, wo immer es als opportun gilt, und gibt lediglich vor, Demokratie und Menschenrechte als Richtschnur der inneren Ordnung anzusehen.

Der neue Kalte Krieg kann daher ohne weiteres an die Rhetorik des historischen anknüpfen. Bislang erschöpft er sich in propagandistischen Phrasen und militärischen Muskelspielen, die kaum mehr als Symbolcharakter haben. Auch die eifrige Papierarbeit, die in Nato-Stäben geleistet wird, und die Ankündigung der maßgeblichen europäischen Bündnismitglieder Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die Verteidigungshaushalte nicht weiter erodieren zu lassen, sondern geringfügig aufzustocken, bedeuten kein Zurück zum Szenario gut ausgerüsteter Massenarmeen, die sich in Europa gegenseitig in Schach halten. Dazu gibt es auch keine Veranlassung. Der neue Kalte Krieg wird nicht auf Augenhöhe zwischen zwei Blöcken geführt, in deren Zentren jeweils Supermächte stehen. 

Seine Kontrahenten sind die letzte verbliebene Weltmacht USA und ihre zahllosen europäischen Partnerstaaten auf der einen und das ökonomisch marode Rest-Rußland, das um seine Souveränität bangt und seinen Status als Regionalmacht behaupten möchte, auf der anderen Seite. Sein Schauplatz ist nicht wie einst die Welt, in der Moskau heute über keinen politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Einfluß verfügt, um Stellvertreterkonflikte zu entfesseln, sondern die postsowjetische Peripherie und aus Putins Sicht gerade auch die Innenpolitik seines Landes.

In der neuen russischen Militärdoktrin, die Ende 2014 in Kraft trat, spielt das Szenario einer vom Ausland unterstützten Destabilisierung oder gar eines gewaltsamen Umsturzes eine wichtige Rolle. Zum einen wird als Gefahr gesehen, daß die latenten ethnischen und religiösen Spannungen in den muslimisch geprägten Regionen des Vielvölkerstaates durch islamistische Gruppierungen in Zentralasien oder im Nahen Osten angeheizt werden. Zahlreiche russische Staatsbürger kämpfen bereits in den Reihen des „Islamischen Staat“, und das Risiko, daß Rückkehrer zum Kristallisationspunkt terroristischer Bestrebungen werden könnten, wird, nicht anders als in Westeuropa, als hoch eingeschätzt. 

Diese Gefahr, deren Eindämmung ein gemeinsames Interesse Rußlands und des Westens ist, wird jedoch durch eine weitere in den Schatten gestellt, die nicht nur den Zusammenhalt des Landes, sondern das Zentrum der Macht zu bedrohen scheint. Seit der „Rosenrevolution“ in Georgien (2003), der „Orangen Revolution“ in der Ukraine (2004), der „Tulpenrevolution“ in Kirgisien (2005) und dem gescheiterten Aufstand in Weißrußland (2006) wittert Moskau hinter jedem Massenprotest, der sich irgendwo auf der Welt gegen korrupte Autokraten richtet, einen perfiden Schachzug im Rahmen der hybriden Kriegführung des Westens, mit dem im Schulterschluß zwischen philanthropischen Nichtregierungsorganisationen und Geheimdiensten und unter Nutzung sozialer Medien ein Regimewechsel im Interesse Washingtons betrieben wird. 

Sogar die Aufstände in einigen arabischen Staaten wie auch die jüngsten Unruhen in Mazedonien wurden nach diesem verschwörungstheoretischen Schema interpretiert. Als russische Oppositionelle auf Großkundgebungen Ende 2011 und Anfang 2012 Manipulationen bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen anprangerten, war die Reaktion daher panisch und rigoros. Der Stabilität wird seither der unbedingte Vorzug vor dem Bemühen gegeben, den Schein einer „gelenkten Demokratie“ zu wahren, in der sich Meinungspluralismus entfalten kann. 

Neue Runde im geopolitischen Spiel

Für Putin wäre es dabei einfacher, wenn er es allein mit der heterogenen politischen Opposition aus Nationalisten, Liberalen und Linksradikalen zu tun hätte. Fürchten muß er vor allem die Oligarchen, die sich nach dem Ende der Sowjetunion in zumeist dubioser Form am einstigen Volkseigentum bereichert haben. Der ihnen von Putin aufgezwungene Burgfrieden, der ihre Vermögen unangetastet läßt, solange sie sich der Politik enthalten, ist brüchig. Sollte das Regime ins Wanken geraten, könnten einige von ihnen dem ukrainischen Beispiel folgen und versuchen, sich als Gralshüter der Demokratie nach westlichem Verständnis zu profilieren.

Moskau faßt die Ukraine-Krise wie auch den 2008 eskalierten Konflikt mit Georgien daher als neue Runde eines geopolitischen Spiels auf, in dem die Gegner nicht nur auf eine Eindämmung, sondern die Zerstörung Rußlands aus sind. Aus dieser Sicht hat sich der Kalte Krieg vor 25 Jahren nicht einfach in Wohlgefallen aufgelöst. Der siegreiche Kontrahent setzte vielmehr nach, um das Gleichgewicht dauerhaft zu seinen Gunsten zu verschieben und das neuerliche Entstehen einer östlichen Gegenmacht bereits im Ansatz zu verhindern. 

Schritt für Schritt rückte die Nato an die Grenzen Rest-Rußlands heran. Ihr gehören heute nicht nur alle einstigen Satellitenstaaten des Warschauer Paktes, sondern mit Estland, Lettland und Litauen auch ehemalige Sowjetrepubliken an. Ein Beitritt Georgiens und der Ukraine steht zwar nicht auf der Tagesordnung, ist aber eine Option, die in der Hinterhand bleibt. Russische Sicherheitsinteressen mögen davon zwar berührt sein, konnten und können von der Nato allerdings nicht respektiert werden. Alle Staaten, die im Zuge der Osterweiterungen Mitglieder des Bündnisses wurden, betrachteten dies als die einzige Chance, um sich der Hegemonie Moskaus, die jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang ihre Souveränität und Integrität in Frage stellte, zu entziehen. Ein Rußland, das diese Entscheidungen nicht akzeptiert, kann kein Partner sein.

Komplizierter stellt sich die Lage aber in den postsowjetischen Staaten, ausgenommen das Baltikum, dar. Die neuen Staaten, die rings um Rest-Rußland aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgingen, ringen auch nach einem Vierteljahrhundert um ihre Identität, sind überwiegend fragil und werden nahezu ausnahmslos von kleptokratischen Diktatoren oder Oligarchen regiert, die sich außenpolitisch an den Meistbietenden anlehnen. Im postsowjetischen Raum leben, das Baltikum eingeschlossen, etwa 17 Millionen ethnische Russen, denen gegenüber Moskau eine Schutzverpflichtung erklärt hat, der im Extremfall auch mit militärischen Mitteln nachgekommen würde. Besondere Rechte im „nahen Ausland“, also eine russische „Monroe-Doktrin“ für den postsowjetischen Raum, in die womöglich sogar die drei baltischen Nato-Mitglieder einbezogen wären, kann der Westen Moskau aber nicht zugestehen. 

Insbesondere die Amerikaner wachen argwöhnisch darüber, daß ihnen nicht der Zugang zu Räumen verwehrt wird, die für sie strategisch relevant sind, zumal wenn ihr Engagement von den Regierungen der betroffenen souveränen Staaten offenbar gewünscht wird oder die humanitäre Lage im Sinne der „Responsibility to Protect“ es erfordern könnte. 

Überlegungen, welche militärstrategischen Konsequenzen daraus hinsichtlich des wieder auf der Liste der Problemstaaten verzeichneten Rußland gezogen werden müssen, sind im Gange. In den vergangenen Jahren konzentrierten sich die Amerikaner auf die Frage, was zu tun wäre, wenn ihnen China den Zugang zu Operationsgebieten in Ostasien oder im Pazifik verweigern oder ihre Truppen im Einsatzgebiet bedrohen würde („Anti-Access/Area Denial“ abgekürzt A2/AD). 

Russisch-amerikanische     Allianz gegen China?

Diese Frage stellt sich nach der Lageentwicklung in der Ukraine, der russischen Aufrüstung und den militärischen Nadelstichen und Provokationen Moskaus nun auch auf dem osteuropäischen Schauplatz. Obamas Grundsatzentscheidung, die militärischen Planungen der USA primär auf Asien auszurichten, wird dadurch nicht obsolet. Europas strategische Bedeutung als Basis für die Machtprojektion in Afrika und im Nahen Osten war durch sie per se nicht abgewertet worden, und eine Eindämmung Rußlands mußte ebenso auf der Agenda bleiben, solange Moskau, de facto in der Rolle des Junior-Partners, den Schulterschluß mit Peking suchen würde.

Auch in einer multipolaren Weltordnung, die die Handlungsfreiheit der USA empfindlich einschränken würde, wäre Rußland allein kein relevanter Faktor. Die einzige Macht, die die Amerikaner in den nächsten Jahrzehnten herausfordern könnte, ist China, das wirtschaftlich und technologisch stark genug, zugleich aber auch von Ressourcen aus dem Ausland so abhängig geworden ist, daß es die demonstrative sicherheitspolitische Passivität der vergangenen Jahrzehnte allmählich aufgeben kann und muß. Insbesondere die Volksbefreiungsmarine sieht nun nicht mehr primär die eigene Küste und die ihr vorgelagerten Seegebiete als Operationsgebiet, sondern die offene See und hier vor allem den Pazifik und den Indischen Ozean.

Für Washington kommt diese Ausweitung der chinesischen Machtprojektion nicht überraschend. Schon lange vor Oba­ma haben die USA begonnen, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Ihre Antwort ist derzeit eine Doppelstrategie. Man möchte Peking nicht den Weg verbauen und nötigenfalls sogar Anreize bieten, sich dauerhaft kooperativ zu verhalten. Zugleich baut man militärisch vor und sucht verstärkt Allianzen mit Staaten in der Region, die den wachsenden Einfluß Chinas fürchten. Unter kooperativem Verhalten versteht Washington allerdings, daß Peking ihm nicht den Einfluß in der ostasiatischen Hemisphäre beschneidet, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein gewohnheitsrechtlicher Anspruch der Amerikaner ist. Genau dies darf allerdings als langfristiges Ziel der Chinesen vermutet werden.

Für eine konsequente Eindämmung Chinas wäre eine amerikanisch-russische Allianz eine Trumpfkarte, da die bislang vor allem maritime Einkreisung des Gegenspielers durch eine kontinentale im großen Stil ergänzt werden könnte. So sehr Peking diese Option auch fürchtet und Moskau als einen latent unberechenbaren Partner betrachten muß, so problematisch ist es für Washington, auf diese Karte zu setzen. Eine strategische Partnerschaft mit Rußland ließe sich nicht auf den ostasiatischen Raum beschränken, sondern hätte Auswirkungen auch auf Europa. Hier jedoch bleibt es im Sinne der Gründungsphilosophie der Nato das Ziel der USA, „to keep the Russians out“. 

Die mehr oder weniger integrierte Staatengemeinschaft, die heute für sich reklamiert, Europa zu repräsentieren, ist für die Amerikaner zwar ein unbequemer wirtschaftlicher Konkurrent. Ein Rivale auf der Bühne der Weltpolitik droht sie aber nicht zu werden. Käme das russische Potential in welcher Form auch immer hinzu, sähe dies anders aus.



Anti-Access/Area Denial

Unter sogenannten „Anti-Access/Area Denial capabilities (A2/AD)“ versteht man die Fähigkeiten einer anderen (gegnerischen) Regionalmacht, die Bewegungs- bzw. Operationsfreiheit der US-Truppen einzuschränken. Dies können etwa Militärbasen sein oder auch Raketen, die Schiffe und Flugzeuge bedrohen. Die Amerikaner konzentrieren sich darauf, dem entgegenzutreten, um Zugang zu kritischen Weltregionen oder ungehinderte Handlungsmöglichkeiten in Operationsgebieten zu haben.

Foto: Schachspiel: Der siegreiche Kontrahent setzt nach, um das Gleichgewicht dauerhaft zu seinen Gunsten zu verschieben