© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wenn Berlin kurz still ist
Christian Vollradt

Innehalten. Kaum etwas widerspricht dem politischen Betrieb von Bundes-Berlin mehr als dieses Tätigkeitswort. Innehalten ist das Gegenteil dessen, was das Spitzenpersonal mit Adler im Briefkopf tagein, tagaus tut – und was zu tun von ihm erwartet wird. 

Rastlos, ruhelos, nahezu schlaflos hetzt man von Termin zu Termin, Konferenz hier, Krisensitzung da, Empfänge, Beratungen, Interviews, Talkshowauftritte, Gremienrunden. Und zwischendurch noch ein Statement: „Ich meine ..., wir werden ..., es muß ...“ Was sagen die anderen, wie komme ich rüber, wo stehen wir in den Umfragen? Ein ständiges Wechselspiel. 

Einkehr? Fehlanzeige. Doch dann gibt es diese seltenen Momente, in denen wie auf ein unsichtbares Kommando hin diese Routine wenigstens für einen Augenblick unterbrochen zu sein, das Hamsterrad eine Weile stillzustehen scheint. 

Wer am vergangenen Freitag morgens um acht Uhr die katholische Sankt Hedwigskathedrale in Berlins historischer Mitte aufgesucht hatte, konnte einen solchen Augenblick erleben. Bis auf den letzen Platz gefüllt ist das Gotteshaus, viele Besucher haben gerade noch einen Stehplatz gefunden. Berlins Politik nimmt Abschied von Philipp Mißfelder, dem CDU-Bundestagsabgeordneten, der am Sonntag zuvor an einer Lungenembolie gestorben war. Mit nur 35 Jahren. Neben Bundestagspräsident Norbert Lammert und Kanzlerin Angela Merkel sind zahlreiche Kabinettsmitglieder gekommen, viele Abgeordnete aller Fraktionen, Diplomaten sowie ehemalige Politiker und Weggefährten.

„Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Der Vers aus dem Johannesevangelium trifft die Stimmung. Wie kann es sein, daß da jemand, Vater zweier kleiner Kinder, so jung sterben mußte? Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der Unionsbundestagsfraktion, schildert am Ende der Messe, wie die Nachricht von Mißfelders Tod am Montag morgen in eine Parteisitzung platzte: „Ein einziger Aufschrei – und dann Sprachlosigkeit.“

Aus Gründen des Selbstschutzes hätten Spitzenpolitiker gelernt, „sich emotional zu reduzieren“, hatte der Spiegel-Journalist Jürgen Leinemann einmal festgestellt. Doch als Prälat Karl Jüsten sehr anrührend von Mißfelders letztem Tag, den er mit seiner Frau und den Töchtern verbracht hatte, berichtet, da fällt nicht nur von einer Bundestagsabgeordneten und Ex-Ministerin alle professionelle Fassade ab und man ahnt, was der zweifachen Mutter gerade durch den Kopf geht. „Vernachlässigen Sie Ihre Familie nicht“, mahnt der Priester die politischen Alphatiere, wohl wissend, wer unter der „Droge Politik“ (Leinemann) häufig am meisten zu leiden hat. 

Als kurz nach neun die Kirchenpforten wieder öffnen, nimmt der Tag Fahrt auf. Die dunklen Limousinen rollen vor, es geht im Eiltempo Richtung Reichstag. Nicht für Mißfelder wurde die Sommerpause unterbrochen, Bundes-Berlin muß über ein neues Hilfspaket für Griechenland abstimmen. Schnell, schnell, die Zeit drängt, Kameras klicken. Innehalten? Das Gegenteil davon.