© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

"Und die Meere rauschen..."
... den Choral der Zeit“: Nichts bleibt, wie es war – Eindrücke von einer Reise durch Nord-Ostpreußen
Karl Feldmeyer

Siebzig Jahre sind seit dem Untergang der östlichsten Provinz des Reiches vergangen. Dort, wo Ostpreußen war, wie wir es kennen, ist Neues entstanden. Der Südteil der Provinz gehört völkerrechtlich zu Polen, der äußerste Norden, das einstige Memelland, zu Litauen. Beide Staaten sind EU-Mitglieder und für uns problemlos erreichbar. In den Mittelteil Ostpreußens mit der einstigen Hauptstadt Königsberg zu kommen, ist dagegen immer noch aufwendiger. Das Gebiet Königsberg, die Oblast Kaliningrad, wie die Gegend behördlich genannt wird, ist eine Exklave der Russischen Föderation, in die man nur mit Visum eingelassen wird.

Dabei ist das Visum das Geringste. Für den, der kein Russisch spricht, fangen die wirklichen Probleme an, wenn er in die Oblast eingereist ist. Denn die Russen, denen ich begegnet bin – insgesamt wohnen dort gut eine Million Menschen –, waren zwar freundlich; Deutsch, Englisch oder eine andere Fremdsprache spricht aber kaum jemand. Deshalb ist eine organisierte Reise jedem anzuraten, der nicht Russisch spricht. Ohne die kompetente und fließend Deutsch sprechende Reiseleiterin Diana wäre die Reise ein Reinfall gewesen.

Damit sind wir gleich beim positivsten Eindruck dieser Reise: den Menschen. Ein repräsentativer Befund ist in neun Tagen nicht zu erhalten, wohl aber ein Eindruck – und der war überraschend angenehm. Die Menschen, denen wir begegneten, wirkten entspannt und freundlich. Besonders der zugewandte Umgang mit Kindern fällt auf. Ganze Familien, Eltern, Großeltern und Kinder schlendern über Promenaden und Straßen, die Mädchen mit Zöpfen, Schleifen und schmückenden Utensilien herausgeputzt.

Nicht weniger erstaunlich ist etwas ganz anderes: die Offenheit und innere Freiheit, die russische Gesprächspartner kennzeichnet, wenn es um die Situation des Landes, die Lebensbedingungen ganz normaler Menschen oder die Politik im allgemeinen geht. Kein Vergleich zu den formelhaften Wortdrechseleien und Sprechblasen, die von früheren Besuchen in der Sowjetunion unangenehm in Erinnerung blieben. Sowohl die Besetzung der Krim als auch deren Folgen in Gestalt westlicher Sanktionen werden offen kritisch bewertet; nicht anders die Situation im eigenen Land, wobei nicht die Russische Föderation als Ganzes, sondern vor allem die Oblast Kaliningrad, „die Exklave“, im Zentrum der Betrachtung steht.

„Viele Russen fühlen sich hier immer noch fremd“

„Wir sind jetzt von Rußland genauso abgeschnitten, wie es Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland war. Wir fühlen uns Europa näher als das übrige Rußland.“ Solche Einschätzung hören wir öfter. Nach Moskau sind es 1.200, nach Berlin halb soviel Kilometer. Putins Einfuhrsperre für Lebensmittel, insbesondere für Obst und Gemüse aus dem angrenzenden Polen, bekommen die Leute über die Preise direkt zu spüren. Die Bevölkerung setzt auf Selbstversorgung: „Wir haben wieder begonnen, Kartoffeln und Getreide anzubauen sowie die Viehhaltung zu intensivieren.“ Bei der Fahrt über Land fallen große Obstplantagen ins Auge: „Aber bis die tragen, sind die Sanktionen hoffentlich erledigt. Denn eines müssen Sie wissen: Die Russen sind gern faul. Sie wissen, daß sie das reichste Land der Erde haben, weil es reich an Bodenschätzen ist. Wir müssen nur Erdöl und Erdgas fördern und in den Westen verkaufen, oder Gold und andere Edelmetalle, von denen wir reichlich haben“ – so lauten etliche für uns erstaunlich unbekümmerte Aussagen.

Der kleine Grenzverkehr, der die Reise nach und den Einkauf in Polen erleichtert, wird als Wohltat gerühmt. Europa zieht an. Aber zugleich sind sich russische Intellektuelle auch darüber im klaren, warum man selbst nicht dazugehört und nicht dazugehören kann: „Sie müssen wissen“, erläutert man mir, „Rußland liegt fünfzig, wenn nicht noch mehr Jahre hinter Europa zurück. Weil wir nicht in der Lage sind, eine westliche Demokratie aufzubauen. Der entscheidende Grund dafür ist die Tatsache, daß uns dafür ein hinreichend starker Mittelstand fehlt, der gewohnt ist, selbständig zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Soziologisch betrachtet, gehören etwa zehn Prozent der Russen zu den Reichen. Die kümmern sich nicht um das Land, sondern nur um ihr Geld. Die Mittelschicht, auf die es ankommt, umfaßt weniger als ein Fünftel der Bevölkerung – und das ist zuwenig, um einen modernen Staat und eine Marktwirtschaft aufzubauen, die nötig sind, um den Anschluß an den Westen zu schaffen. Und für die Situation hier in der Oblast kommt noch eines hinzu: Die allermeisten Menschen fühlen sich hier immer noch fremd. Sie möchten am liebsten wieder dorthin zurück, wo sie zu Hause waren, bevor sie hierher geholt wurden. Das behindert die Entwicklung zusätzlich.“

Von Königsberg bis Tilsit (Sowjetsk), der zweitgrößten Stadt der Oblast, sind es rund 120 Kilometer. Die Straße ist gut, das Land flach, der Blick geht weit. Bei Sonne und weiß-blauem Himmel bietet sich ein heiteres Bild. Rechts und links der Landstraße, dort, wo zu deutscher Zeit bestellte Felder gestanden haben, erstreckt sich unkultiviertes Land, das im frühen Sommer Wiesen gleicht – mit einem Unterschied: Sie sind Wildwuchs und vielfach versumpft, weil die einst dort liegenden Entwässerungsdrainagen von ahnungslosen Russen zerstört wurden. 1950 erließ Moskau einen Ukas, in der Sowjetunion müsse überall 50 Zentimeter tief gepflügt werden – und somit auch im Gebiet Kaliningrad. Dort aber lagen die Drainagen 40 Zentimeter tief – was nach der Vertreibung der Deutschen niemand mehr wußte. So fielen sie Moskaus Befehl zum Opfer. Jetzt stehen große Weißdornbüsche in unregelmäßigen Abständen auf den Brachen und schmücken sie mit weißleuchtenden Blüten. Ab und zu wird die Eintönigkeit dieses Bildes von bestellten Feldern unterbrochen. Getreide, Mais, ab und zu kleine Kartoffelfelder – von Selbstversorgern angelegt. Der Anblick regt zu Fragen an. Und so erfahren wir weitere Details darüber, warum die einstigen Felder heute verödet und größtenteils unbestellt sind.

Als 1991 in Folge der Auflösung der Sowjetunion auch das Rechtsinstitut des Volkseigentums wegfiel, brauchte das Land neue Eigentümer. Die fanden sich zumeist in Moskau. Dort gab es Leute mit Geld, vor allem aber mit Beziehungen zu denen, die über die Neuvergabe des Landes zu entscheiden hatten. So kam es, daß das Land nicht unter die Bevölkerung des Gebietes aufgeteilt, sondern zum Spekulationsobjekt der neuen Reichen wurde. Für Ostpreußen bedeutet dies: Es blieb alles beim alten. Zu deutscher Zeit dominierte der bis auf die Zeit des Ritterordens zurückreichende Großgrundbesitz. Er wurde 1945 vom Staatsbesitz abgelöst und dieser 1991 vom Großgrundbesitz russischer Oligarchen, die das Land ungenutzt liegen ließen und als Spekulationsobjekt betrachten. In Ostpreußen wechselten also die Staaten, die Gesellschaftsordnungen und die Eigentümer, nicht aber die Besitzstrukturen. Es blieb beim Großgrundbesitz.

Die Provinzstädte der Gegend – Tilsit (Sowjetsk), Insterburg (Tschernjachowsk), Stallupönen (Nesterow), Ragnit (Neman), Labiau (Polessk) oder Wehlau (Snamensk) – gleichen sich in einem Punkt: Ihre Straßen sind sauber gefegt, doch ihr Äußeres ist grau und macht sie fast gesichtslos. Nur Gumbinnen (Gussew) ist eine Ausnahme: Die im Stadtkern auch heute noch weitgehend erhaltene Bausubstanz aus deutscher Zeit wirkt fast heiter, weil die Fassaden weiß gestrichen sind und gepflegt aussehen. Wie zu deutscher Zeit steht wieder ein bronzener Elch in der Stadt und trägt zum Eindruck einer in sich ruhenden Provinzstadt bei. Irritierend aber ist eines: Die Städte wirken fast entvölkert. Die Bevölkerung nimmt ständig ab, weil sich hier, so wird uns berichtet, der Lebensunterhalt nicht verdienen läßt. Es gibt weder Industrie noch Bauernhöfe, und die Landwirtschaft ist weitgehend zum Erliegen gekommen.

Dieser Befund trifft in noch viel höherem Maße auf die Dörfer zu. Ein großer Teil von ihnen existiert nicht mehr, und in denen, die noch bestehen, ist der Zerfall weit fortgeschritten. Die Bevölkerung ist von einst vielen hundert, ja oft mehr als tausend, auf 90, 70, 30 Menschen geschrumpft. Es sind meist Alte, die hier als Selbstversorger mehr vegetieren als leben. Demoralisierend wirkt der Anblick der verfallenden deutschen Bausubstanz, der Bauerngehöfte und Kirchen, darunter mehrere Bauten des berühmten Architekten und Schinkel-Nachfolgers Friedrich August Stüler. Bei einigen sind die Dächer eingebrochen, andere nur noch offene Ruinen. Ein architektonisch besonders bedeutender Bau steht – wenn auch ebenfalls nur noch als Ruine – in Mehlauken (1938 in Liebenfelde umbenannt, seit 1946 russisch Salessje) in der Elchniederung. Dort hat Stüler eine Kirche im Stil der Frührenaissance erbaut, die Vorbild für Gotteshäuser in der preußischen Residenzstadt Potsdam wurde.

Luxus und Wohlstand in den Badeorten

So aber ist nicht der Zustand der ganzen Oblast; im Gegenteil. Ein Kontrastbild hierzu bietet das Samland mit seinen Badeorten, die für Deutsche Cranz, Rauschen und Palmnicken heißen, für Russen Selenogradsk, Swetlogorsk und Jantarnyj. Hier prägt Wohlstand das Bild. Die Bäder sind in gutem Zustand, weil, wie einst zu deutscher Zeit, die wohlhabenderen Königsberger die alten Villen renoviert und neue hinzugefügt haben. Einen gepflegten Eindruck macht auch Pillau (Baltijsk), die für die russische Marine wichtige Hafenstadt, deren Anblick immer noch von den roten Backsteingebäuden aus preußischer Zeit geprägt wird.

Der Weg von Königsberg nach Pillau führt auf der A 103 über Großheidekrug und Fischhausen. Eine baumbestandene Chaussee, die heute niemanden mehr ahnen läßt, was sich auf ihr in den Tagen und Wochen vor der Eroberung Königsbergs durch die Rote Armee abgespielt hat. Das ist schon Geschichte, und die Zahl der Zeitzeugen schwindet, die vom Grauen jener Endzeit in Königsberg oder in Pillau, wo alle verzweifelt auf ein Schiff nach Westen hofften, noch erzählen könnten.

Für uns heute Lebenden liegt das alles sehr fern. Der Augenblick, das ist das heitere sommerliche Samland mit seinen wieder schmucken Städten, die an ihre deutsche Vergangenheit erinnern. Auch die Metropole Königsberg mit ihren 453.000 Einwohnern macht – soweit man dies nach einem Kurzbesuch von einem Tag beurteilen kann – einen ordentlichen Eindruck. Auch wenn alte Königsberger ihre Stadt nicht mehr wiedererkennen. Dafür haben besondern auch die beiden Bombenangriffe der Briten am 27. und 30. August 1944 zuviel zerstört, darauf folgte der Endkampf um die Stadt im April 1945, die gezielten Abrisse durch die Sowjets. Beinahe gediegen wirken die Außenbezirke Maraunenhof (wo sich das deutsche Konsulat befindet), Metgethen oder Amalienhof, die auch in deutscher Zeit schon zu den besseren Wohnlagen zählten.

Das alte Stadtzentrum indes ist ausgelöscht geblieben, bis heute. Nur der Dom wurde mit deutschen Spenden wieder aufgebaut. Er dient heute als Konzerthaus. Dort, wo das Schloß stand, erhebt sich seit 1970 das nie fertiggestellte „Haus der Sowjets“, im Volksmund schlicht und treffend „das Monstrum“ genannt. Es konnte nie bezogen werden, weil seine Statik nicht stimmte. Wie man uns sagt, wird seit einiger Zeit erwogen, die häßliche Ruine abzureißen und an ihrer Stelle einen Teil des alten Schlosses neu erstehen zu lassen. Da bedarf die Ironie der Geschichte keiner Kommentierung.

Die Naturschönheiten des Landes haben am wenigsten gelitten. Kurische Nehrung, Rominter Heide und die urwaldgleiche Elchniederung zwischen der Mündung der Memel im Norden und der Gilge im Süden haben die Zeitläufte heil überstanden. Für die Bauten, die sich die einst Mächtigen dort errichten ließen, gilt das freilich nicht. In der Rominter Heide sind sowohl das Kaiserliche Jagdschloß als auch der auf Veranlassung Hermann Görings in Brand gesetzte „Reichsjägerhof“ verschwunden.

Im Elchwald hat ein deutsches Zeugnis den Lauf der Welt besser überstanden. Dort hatte Kaiser Willhelm II. das Jagdhaus Pait zu seiner Unterkunft ausbauen lassen, von der aus er zwischen 1904 und 1910 dreimal in der Elchniederung auf die Pirsch ging. Dieses kleine Anwesen überlebte als Freizeitheim der Baltischen Rotbannerflotte so lange, bis es nicht mehr bewohnbar war; dann wurde es aufgegeben. Nach dem Ende der Sowjetunion kümmerte sich der Berliner Naturfreund Jürgen Leiste um das Objekt und beteiligte sich an seiner Wiederherstellung, die indessen zu keinem Abschluß kam. Immerhin aber ist der Bau gerettet. Das ist angesichts dessen, was in den letzten siebzig Jahren in Ostpreußen geschehen ist, eine Menge. Unterm Strich aber bleibt die Feststellung: Die deutsche Kultur in Nord-Ostpreußen ist gänzlich vergangen.

Fotos: Die Steine sprechen deutsch: Nur an wenigen Orten sind die baulichen Zeugnisse der preußisch-deutschen Vergangenheit so gut erhalten wie in Gumbinnen – das stattliche Gebäude der ehemaligen Friedrichsschule von 1903 (auf dem Bild oben links) war die östlichste höhere Schule des Deutschen Reiches Kurenwimpel (o.): Die traditionellen Ortsflaggen der Fischer vom Kurischen Haff haben heute nur noch touristischen Wert;   Königsberg heute: Der zum repräsentativen Zentrum umgestaltete ehemalige Hansaplatz und heutige Platz des Sieges mit sowjetisch anmutender Triumphsäule und orthodoxer Christ-Erlöser-Kathedrale. Die Insignien russischer Dominanz sind allgegenwärtig; Gumbinnen: Der kolossale historische Elch des Bildhauers Ludwig Vordermayer, Wahrzeichen der Stadt am Zusammenfluß von Pissa und Rominte, ist wieder zurück; Kurische Nehrung: Wilde Dünenlandschaft, hoher Himmel, klare Seeluft – die schmale Landzunge zwischen Haff und Ostsee bezaubert mit ihrer urwüchsigen Schönheit; Gedenkstein (r.) an die kaiserliche Jagd in der Rominter Heide, wo Kaiser Wilhelm II.  vom Jagdschloß Rominten aus auf die Pirsch ging; Impressionen aus dem Badeort Rauschen, der Riviera der Samlandküste: Jugendstil-Sanatorium, Seilbahn zum Strand, pittoreske Häuser aus der Vorkriegszeit; Monströse Investruine: Schwankender Untergrund, nie fertiggestellt – das „Haus der Sowjets“ symbolisiert wie nichts anderes die bleierne Zeit des Kommunismus