© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Helden der Arbeit
Kleine Leute, die mit Hartz IV besser dran wären, aber keiner will tauschen / Würde ist nicht mit Gold aufzuwiegen
Bernd Rademacher

Für immer mehr Beschäftigte lohnt sich die Arbeit nicht mehr. Viele Arbeitnehmer verdienen kaum mehr, als sie an staatlicher Alimentierung bekommen könnten. Doch statt auf Kosten der Steuerzahler zu Hause zu bleiben, reiben sich überall Deutsche in prekären Arbeitsverhältnissen auf, oft als selbständige Freiberufler. Schon fast idealistisch, sind sie die wahren „Helden der Arbeit“.

Rolf (*) hat sich seinen Lebenstraum vom eigenen Kiosk erfüllt. Lange hat er nach einem geeigneten Standort gesucht. Kioske mit Lottobetrieb dürfen wegen des Jugendschutzes nicht in Nähe von Schulen liegen, aber ohne Lottoannahmestelle ist ein Kiosk nicht lukrativ genug. Bis zu siebzig Stunden steht der knapp 50jährige in seinem Büdchen und versorgt die Nachbarschaft mit Zeitschriften, Zigaretten und – Lottoscheinen. Alle träumen hier vom großen Lottoglück. Einmal in der Woche muß er Unterlagen von der Lottozentrale abholen. Weil er dafür mit Bus und Bahn mehr als einen halben Tag unterwegs wäre, erledigt ein Kumpel für ihn den Kurierdienst und bekommt Drehtabak und Bier als Botenlohn.

Der Spätkauf in der Nähe macht Rolf das Leben schwer. Die Eistruhe hat er abgeschafft, weil er seine Augen nicht überall haben kann: „Während ich den Kindern Eis verkaufe, klauen mir die Rumäninnen die Regale leer.“ Auch die Idee, vor der Tür Tische und Bänke aufzustellen, hat er schnell wieder aufgegeben: „Da setzen sich sofort ein paar Alkoholiker fest, die du nicht mehr los wirst und die deine Kunden vergraulen.“

Obwohl ihn sein Laden gerade über Wasser hält, liebt er ihn. Mehr als eine Woche Urlaub im Jahr ist nicht drin, aber er ist sein eigener Herr und will sich nicht von Ämtern gängeln lassen.

Heidrun hat Psychologie studiert, aber ihr Herz gehört der Musik. Den Traum vom Starruhm hat sie längst abgehakt. Früher konnte die Multiinstrumentalistin mit Klavierstunden, Geigen- und Flötenunterricht etwas dazuverdienen, aber sie will sich nicht mehr damit herumquälen, untalentierten Kindern wegen des Ehrgeizes der Eltern den Spaß an der Musik zu verderben. Darum musiziert sie für Menschen, die außer Freude zu haben nichts können müssen: Die Mittvierzigerin bietet Pflegeheimen für geistig Behinderte Musiktherapie an. Dafür setzt sie sich morgens vor Dämmerung in ihren alten Kombi und fährt mit Instrumenten und Noten verschiedene Heime kirchlicher Träger in der Region ab, die allesamt nach Heiligen benannt sind: St. Marien, St. Christophorus etc. Wenn es dunkel ist, kommt sie nach Hause und versorgt ihre Ponys. Wovon sie das Futter bezahlt, weiß sie manchmal selbst nicht; „Aber meinen Streßjob gegen staatliche Alimentierung tauschen? Kommt nie in Frage.“

Der Großteil des Gewinns wird wieder aufgefressen

Michaels Lieferwagen sieht aus wie eine Müllhalde: leere Kaffeebecher, Schokoriegel-Folien und Werkzeug. Er ist Allround-Handwerker. Heute baut er Rigips-Wände, morgen setzt er Fußleisten, übermorgen tapeziert er unter hohem Termindruck. Daneben hat er ständig was am Laufen: Er überführt alte Autos quer durch Deutschland, organisiert Paintball-Spiele, früher hat er auch noch als Türsteher vor Landdiskos gearbeitet. Dafür hat er die richtige Statur. Reich wird er mit seinem ambulanten Handwerksdienst nie, auch wenn er gut ausgebucht ist. Aber die Kosten für Werkzeug, Sprit und Autoreparaturen fressen den Großteil des Gewinns wieder auf. Trotzdem könnte auch er sich nicht vorstellen, seinen Wagen zu verkaufen und ALG II zu beziehen.

Gunnar arbeitet in einem Industriebetrieb. Früher war er mal bei der Post, sogar verbeamtet. Aber mit seiner Pension ist es nicht sehr weit her. Darum verdient er 400 Euro dazu. Davon bleibt genug übrig, um mit Frau und Enkelkind jeden Sommer zwei Wochen an die Nordsee zu fahren. Weil er schon so lange in der Firma ist, kennt er jede Schraube, jede Arbeitsanweisung und hat jeden Fall, der theoretisch eintreten kann, schon erlebt. Darum ist er unentbehrlich und wird oft um Rat gefragt. Wenn es irgendwo hakt, heißt es: „Frag mal Gunni!“ Manchmal rufen ihn die jungen Kollegen noch auf dem Handy an, wenn er schon mit dem Fahrrad auf dem Heimweg ist. Wenn es sein muß, dreht er wieder um und kommt zurück. Dann schimpft er zwar, aber im Grunde genießt er es, wenn die Jungen ohne ihn nicht weiterwissen.

Diese vier könnten exemplarisch für viele besser zu Hause bleiben und von „Stütze“ leben. Sie tun es nicht. Denn Würde und Unabhängigkeit sind nicht mit Gold aufzuwiegen.

(*) Namen von der Redaktion geändert.