© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Hochspannungsziele unter Schwachstrom
Enorme Defizite bei der Umsetzung der Energiewende / Schwachstelle Stromtransport
Wolfhard H. A. Schmid

Ist die Vorgabe, bis 2022 keinen Strom mehr aus Kernkraft zu beziehen, realistisch? Sieben Jahre sind schnell um. Am grünen Tisch war der Beschluß der Bundesregierung einfach. Doch die Praxis sieht anders aus. Zwar ist in der letzten aktuellen Statistik des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. (BDEW) von 2013 der Stromanteil aus erneuerbaren Energien gegenüber dem Vorjahr von 22 auf 23,4 Prozent gestiegen, gleichzeitig aber auch der Stromanteil aus Kohlekraftwerken von 44 auf 45,5 Prozent.

Fortschritte bei der        Speichertechnik

Für den Anstieg der CO2-Emissionen im Jahr 2013 sei laut Bundesregierung jedoch nicht allein der Anstieg der Kohleverstromung maßgeblich, sondern die geringen Preise für Emissionszertifikate würden eine Rolle spielen. Bei der Energiewende sei immer klar gewesen, daß Deutschland zunächst aus der Kernkraft aussteigt und es weiterhin Kohlekraftwerke geben muß, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Verschwiegen wird dabei, daß es in Deutschland nach wie vor große Engpässe in der Energiespeicherung und im Stromtransport gibt. Ganz zu schweigen von der dreistelligen Zahl von Kohlekraftwerken, die wegen Überalterung eine dringende Erneuerung benötigen. Dazu kommen die vielen Bürgerproteste gegen die Errichtung neuer Braunkohlekraftwerke, die mit ihrem Flächenbedarf und Bodenverschleiß eine zusätzliche Umweltbelastung hervorrufen, und eine unausgegorene Stromtrassenführung, die bei vielen Anrainern große Sorgen um ihre Wohnqualität hervorruft.

Betrachtet man die Zahlen für die erneuerbaren Energien, wie sie eine vorläufige Statistik des BDEW für 2014 vorlegt, so beträgt der Anteil von Windkraft 9,1 Prozent und von Photovoltaik 5,7 Prozent bei der Bruttostromerzeugung. Damit wird deutlich, wie weit das Land noch von der Zielsetzung der Bundesregierung entfernt ist, bis 2022 keinen Strom mehr aus Kernkraft zu verwenden. Der Anteil regenerativer Energien müßte bis dahin quasi verdoppelt werden.

Mit dem Stromausfall durch die Teilsonnenfinsternis vom 20. März des Jahres wäre die erste Generalprobe erfolgreich ohne Versorgungsprobleme bestanden worden, wie die Stromnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, Tennet und TransnetBW sich in einer gemeinsamen Mitteilung sicher zeigten. Betrachtet man aber den geringen Photovoltaikanteil an der gesamten Bruttostromerzeugung, so ist das Ergebnis in einem ganz anderen Licht zu sehen.

Wissenschaft und Technik wollen das Problem der Speichertechnik und Optimierung der Stromtrassenführung so schnell wie möglich beheben. Als Beispiele hierzu sollen die Erzeugung von Methangas aus dem Kohlendioxid des Rauchgases der Kohlekraftwerke und Feldversuche mit unterirdischen Stromtrassen dienen. In einer Pilotanlage bei Lünen in Nordrhein-Westfalen soll erstmals Kohlendioxid aus einem Kohlekraftwerk eingefangen und mit Wasserstoff zu handelsüblichem Methanol (CH3OH) verarbeitet werden. Dieses läßt sich als Treibstoff oder als Rohstoff in der chemischen Industrie nutzen. Die Anlage produziert auf diese Weise eine Tonne Methanol pro Tag und erspart 1,4 Tonnen CO2-Emissionen, wie das Projekt-Konsortium unter Federführung der Mitsubishi Hitachi Power Systems Europe GmbH mitteilte.

Neben der Verringerung der CO2-Emissionen bietet das „MefCO2“ („Methanol-Brennstoff aus CO2“)-Projekt aber noch einen weiteren Vorteil: Wird der für die Wasserspaltung benötigte Strom aus Wind- oder Sonnenkraft genutzt, dann kann auf diese Weise überschüssiger Strom aus diesen alternativen Energien umgewandelt und damit gespeichert werden. Das hilft dabei, das Stromnetz zu stabilisieren. Das Verfahren kann zudem nicht nur an Großkraftwerken eingesetzt werden: Auch andere Industrien mit hohen CO2-Emissionen sind für die Methanol-Synthese geeignet: Stahlwerke, Chemieanlagen, Raffinerien oder Zementfabriken. Das Verfahren sei zudem bereits heute wettbewerbsfähig und nicht auf Subventionen angewiesen, wie das Betreiber-Konsortium erklärt. Inbetriebnahme soll 2017 sein.

Netzbetreiber Amprion baut eine erste unterirdische Stromleitung im Münsterland. Das Problem der entstehende Stromwärme an der Erdoberfläche bei unterirdischer Trassenführung ist allerdings noch nicht gelöst. Inwieweit diese neuen Techniken kostengünstig sind, muß abgewartet werden. Praxisorientierte Denkansätze von Experten, wie von Speicherspezialisten in der Studie „Stromspeicher in der Energiewende“ der Berliner Lobbyorganisation „Agora Energiewende“ dargelegt, sehen eine umweltschonende Trassenführung an ICE-Neubaustrecken vor und regen an, das Potential einer dezentralen Stromversorgung unbedingt weiterzuverfolgen.

Energie-Bundesministerium nicht erforderlich?

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, hielt noch 2013 die Forderung nach einem eigenen Ministerium für die Energiewende für nicht zielführend. Zwar seien Zuständigkeitsverteilungen bei dem Thema innerhalb der Bundesregierung „nicht in Stein gemeißelt“, sagte Schweitzer damals Handelsblatt Online. „Viel wichtiger als ein eigenes Bundesenergieministerium ist aber, daß die mittlerweile regelmäßigen Gespräche zwischen Bund und Ländern zu sichtbaren Ergebnissen führen.“

Die bisherige Praxis hat aber gezeigt: Solange es keine die Bundesländer übergreifende Basis für die Entwicklung eines ganzheitlichen Energiekonzeptes gibt, wird jedes Bundesland in erster Linie seine eigenen Interessen vertreten. Letztes Beispiel dafür ist der andauernde Streit zwischen Bayern und Hessen um die Stromtrassenführung.

 www.bdew.de

 www.agora-energiewende.de