© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Im Wettlauf der Entfesselung
Mitte Juli 1945 zündeten die US-Amerikaner die erste Atombombe / Welchen Anteil hatten deutsche Physiker an der Entwicklung?
Wolfgang Kaufmann

Now we are all sons of bitches – Nun sind wir alle Hurensöhne.“ Mit diesen Worten kommentierte der Physiker Kenneth Bainbridge die weltweit erste Zündung eines Nuklearsprengsatzes, welche am Montag, den 16. Juli 1945, um 5.29 Uhr Ortszeit auf dem White Sands Proving Ground im US-Bundesstaat New Mexico erfolgte. Bei diesem sogenannten Trinity-Test, an dessen Vorbereitung Bainbridge maßgeblich mitgewirkt hatte, wurde eine Plutonium-Bombe zur Explosion gebracht, um die technisch hochkomplizierten Sprengstofflinsen zu erproben, die dann auch im „Fat Man“ zum Einsatz kamen, der am 9. August 1945 die japanische Stadt Nagasaki auslöschte und bis zu 80.000 Menschen tötete.

Der Test unter der Leitung von Robert Oppenheimer und Generalleutnant Leslie R. Groves verlief ebenso erfolgreich wie beeindruckend: Zum ersten detonierte „The Gadget“ (Das Ding) tatsächlich, womit die 500 Millionen Dollar, die das mühsame Erbrüten des Plutoniums 239 im Reaktorkomplex von Hanford Site verschlungen hatte, nicht umsonst aufgewendet worden waren. Zum anderen entwickelte die Ladung eine Sprengkraft, die der von 21.000 Tonnen konventionellem TNT entsprach – und das lag weit über den Vorhersagen der Mehrzahl der beteiligten Wissenschaftler.

Infolge der Nuklearexplosion in dreißig Metern Höhe über dem Boden entstand ein Krater von drei Metern Tiefe und 330 Metern Durchmesser; darüber hinaus schmolz der Sand der Wüste Jornada del Muerto streckenweise zu einer glasigen grünen Masse, welche später den Namen „Trinitit“ erhielt (Stücke davon kann man heute im Internet für weniger als 10 Euro pro Gramm erwerben). Außerdem entstand die typische atomare Pilzwolke, die bis in eine Höhe von 12 Kilometern hinaufreichte. Und der Lichtblitz und die Druckwelle wurden sogar noch in 320 beziehungsweise 160 Kilometern Entfernung wahrgenommen.

Deutsches Uran für die Bombe von Hiroshima

Das warf bei der Bevölkerung im Großraum zwischen El Paso und Albuquerque natürlich Fragen nach der Ursache dieser Phänomene auf. Bei deren Beantwortung setzte die US-Armee komplett auf Täuschung: „Ein Munitionslager mit hochexplosiven und pyrotechnischen Materialien explodierte in den frühen Morgenstunden in einem abgelegenen Bereich im Sperrgebiet der Alamogordo Air Base“, hieß es am 17. Juli offiziell. Dem folgte der Zusatz, daß auch „Gasgranaten“ detoniert seien, was es nötig mache, „einige wenige Zivilisten aus ihren Häusern zu evakuieren“.

Tatsächlich jedoch waren die Folgen für Mensch und Umwelt weitaus gravierender. So ging während der nächsten fünf Tage nach dem Trinity-Test ein radioaktiver Fallout auf Socorro County nieder, durch den zahlreiche Rinder Schäden davontrugen, darunter auch in Chupadera Mesa, das immerhin 48 Kilometer entfernt lag. Überdies wurden bei der Explosion 4,8 Kilogramm ungespaltenes Plutonium in der Landschaft verteilt – eine höchst fatale Nebenwirkung angesichts der extremen Giftigkeit dieses Schwermetalls. Wie die Fachzeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists 1969 berichtete, führte das zu einem signifikanten Anstieg der Säuglingssterblichkeit in New Mexico. Und 1997 wiederum war dann im gleichen Magazin zu lesen, daß man Hotspots, also isolierte, radioaktiv verseuchte Bereiche, sogar noch in 1.600 Kilometern Entfernung gefunden habe. Ebenso verdarb die freigesetzte Strahlung eine größere Produktionscharge der Filmfirma Kodak, die im Nachbarstaat Indiana hergestellt worden war.

Mit dem gelungenen Trinity-Test, der nicht zufällig genau einen Tag vor der Eröffnung der Potsdamer Konferenz stattfand, bei der der neue US-Präsident Harry S. Truman erstmals auf seinen Gegenspieler Stalin traf, konnten die Atombombenkonstrukteure, welche im Rahmen des Manhattan-Projekts agierten, einen entscheidenden Erfolg erzielen und so auch die gigantischen Entwicklungskosten von rund zwei Milliarden Dollar (nach heutiger Kaufkraft 26 Milliarden Dollar) rechtfertigen. Andererseits kam Trinity aber zu spät, um noch der Vorbereitung eines Kernwaffeneinsatzes gegen das Dritte Reich zu dienen – ansonsten hätte es wohl Ludwigshafen, Mannheim oder Berlin getroffen. In diesem Fall wäre jenes Land das erste Opfer eines Nuklearangriffes geworden, in dem die wissenschaftlichen Grundlagen hierfür geschaffen worden waren.

Immerhin fand ja die erste experimentelle Kernspaltung in Berlin statt, woraufhin Wissenschaftler in den USA erkannten, welches waffentechnische Potential sich hiermit auftat. Und unter denen, die dann ab Juni 1942 darangingen, nukleare Sprengkörper zu bauen, befanden sich ebenfalls Deutsche wie Hans Bethe und Rudolf Peierls. Der erstere übernahm sogar die Leitung der theoretischen Abteilung am Los Alamos Scientific Laboratory und gehörte damit zu den maßgeblichen Vätern der Atombombe beziehungsweise des Erfolgs von Trinity.

Außerdem griffen die Vereinigten Staaten auch direkt auf deutsches Uran zurück: Mitte April 1945 beschlagnahmte ein US-Kommando 1.100 Tonnen Uranerz, die aus der Shinkolobwe-Mine im Kongo stammten und 1940 von Belgien aus nach Staßfurt verbracht worden waren. Dieses Uran gelangte in die Anreicherungsanlage von Oak Ridge in Tennessee, und es ist durchaus möglich, daß es für den Bau der Hiroshima-Bombe verwendet wurde, die ohne jedweden vorherigen Funktionstest zum Abwurf kam.

Die Existenz eines deutschen Atomprogramms beziehungsweise „Uranprojekts“ während des Zweiten Weltkriegs bewog den Berliner Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch 2005 dazu, mit einer ungewöhnlichen und nachfolgend auch sofort heftig umstrittenen These an die Öffentlichkeit zu treten: Trinity sei nicht der erste Kernwaffentest der Welt gewesen, denn diesen hätten am 4. März 1945 deutsche Wissenschaftler und Soldaten auf einem Truppenübungsplatz nahe der thüringischen Ortschaft Ohrdruf durchgeführt. 

Das gehe aus geheimen Stasi-Protokollen mit Aussagen von Zeitzeugen aus den sechziger Jahren hervor, welche allesamt auf die Zündung einer kleineren, taktischen Nuklearwaffe nach dem Hohlladungsprinzip hindeuteten. Bei seiner Argumentation stützte sich Karlsch vor allem auf den Suhler Informatiker und Hobbyhistoriker Thomas Mehner, der seit Mai 2001 ein Buch nach dem anderen über die „deutsche Atombombe“ publizierte, aber gemeinhin als unseriös gilt – wobei der Hauptvorwurf lautet, daß ihm jedwede Fähigkeit zur Quellenkritik abgehe.

In Ohrdruf wurde fast keine Radioaktivität nachgewiesen

Zur Überprüfung der Behauptungen von Karlsch und Mehner untersuchte die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig 2005/06 acht Bodenproben aus Ohrdruf. Dabei fanden sich jedoch nur Spuren des radioaktiven Fallouts infolge des Reaktorunfalls von Tschernobyl sowie der oberirdischen Atombombenversuche während des Kalten Krieges. Allerdings schränkten Herbert Janßen und Dirk Arnold vom PTB-Fachbereich Radioaktivität in ihrem Abschlußbericht ein: „Ein wissenschaftlicher Gegenbeweis zum behaupteten Kernwaffentest am Ende des Zweiten Weltkriegs kann aber weder mit dieser noch irgendeiner anderen Stichproben-Analyse erbracht werden. Eine endgültige Bewertung der historischen Zusammenhänge ist damit weiterhin offen.“ Und daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert.