© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Solidarische Krankenversicherung
Vor dem Kollaps
Jost Bauch

Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen der Politik und den ihnen angeschlossenen Medien, so steht unser Gesundheitswesen auf soliden finanziellen Grundlagen. Die Einnahmen der Krankenkassen sprudeln wegen der anhaltend guten Konjunktur. So waren die Einnahmen des Gesundheitsfonds von 204,4 Milliarden Euro 2014 höher als die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von 200,4 Milliarden Euro, der Beitragssatz konnte für 2015 von 15,5 Prozent auf 14,6 Prozent gesenkt werden. Diese relativ gute Finanzsituation im Gesundheitswesen verleitet zu der Annahme, daß das Gesundheitswesen auf Dauer finanziell stabilisiert sei. Die Politik tut dabei alles, um diesen Eindruck auch in der öffentlichen Meinung zu verfestigen.

Diese Annahme ist aber irrig. Seit dem Ende der neunziger Jahre macht Fritz Beske mit seinem Institut für Gesundheitssystemforschung in Kiel immer wieder darauf aufmerksam, daß mittel- und langfristig das Gesundheitswesen in seiner jetzigen Struktur als solidarische Krankenversicherung vor dem Kollaps steht. Entscheidend für diese berechtigte und wissenschaftlich untermauerte Prognose ist die Demographie. Der Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland wird sich in den nächsten 30 bis 40 Jahren dramatisch verändern. Zum einen steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung durch einen beachtlichen Anstieg der Lebenserwartung, zum anderen, und das ist der ausschlaggebendere Faktor, steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung, weil sich die Anzahl der nachwachsenden Jüngeren immer weiter verringert. Die Zahl der Alten im Vergleich zur Zahl der Jüngeren wächst. Zur Jahrhundertmitte wird, so die Ergebnisse demographischer Forschung, die Zahl der 80jährigen genauso groß sein wie die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 20 Jahren, und die Zahl der über 60jährigen ist dann dreimal so groß wie die Zahl der unter 20jährigen. 

Die Zahl der Menschen, die in Erwerbsarbeit stehen, die also durch ihre Arbeit alle Sozialleistungen finanzieren müssen, schrumpft bis 2060 um 18,9 Millionen, gleichzeitig nimmt die Zahl der 60jährigen und Älteren um 9,9 Millionen zu, ihr Anteil an der Bevölkerung steigt von 21,8 Prozent auf 40,9 Prozent. Diese dramatischen Zahlen können in dem jüngst von Herwig Birg veröffentlichten Werk „Die alternde Republik und das Versagen der Politik“ nachvollzogen werden (JF 21/15).

Besonders gravierend ist dieser „Altenquotient“ (die Anzahl der Personen der Altersgruppe 65+ auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter) für die Rentenversicherung. Konnten noch im Jahr 2000 3,7 Personen eine Person ab 65 Jahren rentenmäßig „durchfüttern“, so werden es im Jahr 2050 nur noch 1,6 Personen sein, die eine Person über 65 finanziell unterhalten müssen. Die Rechnung für die Rentenversicherung ist klar: Entweder müssen bis 2050 die Rentenbezüge halbiert werden oder die Beiträge müssen verdoppelt werden (wobei auch beide Maßnahmen gemischt werden können).

Doch was passiert angesichts dieser demographischen Verwerfungen mit der gesundheitlichen Versorgung und der sozialen Krankenversicherung? Auch hier gibt es wie bei der Rentenversicherung finanzielle Verwerfungen, wenn die Zahl der Erwerbstätigen in Relation zu den Rentenbeziehern schrumpft (die ja einen reduzierten Krankenkassenbeitrag leisten). Allein dieser Effekt saldiert sich bis zum Jahr 2040 auf 30 Prozent weniger Einnahmen für die Krankenkassen. Dramatisch wird es für die Krankenversicherung und das Gesundheitswesen, wenn dann noch durch die Überalterung der Bevölkerung die allgemeine Krankheitslast steigt. Fritz Beske wurde nicht müde, auf diesen Effekt hinzuweisen. Die einfache Wahrheit, die dahintersteht: Ältere Menschen sind kränker, und je älter sie werden, desto kränker werden sie mit den entsprechenden finanziellen Folgen für die GKV.

Demographie ist eine gefährliche Wissenschaft. Ihre Aussagen sind systemgefährdend. Deswegen wurden die Lehrstühle für Bevölkerungssoziologie schon lange abgeschafft. Man möchte nicht mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert werden.

Beske und sein Institut haben eine Vielzahl von Berechnungen vorgelegt, die diese Prognose belegen. Nur einige Beispiele lassen sich hier aufführen. Altersbedingt werden sich die Behandlungsfälle für die stationäre Behandlung des Kreislaufsystems von 2000 auf 2050 um 67,3 Prozent erhöhen, die Zahl der an Diabetes mellitus erkrankten Personen wird um 29,4 Prozent steigen, die Zahl der Pflegebedürftigen erhöht sich in diesem Zeitraum um 118 Prozent von zwei auf 4,4 Millionen. Die Krankheitskosten pro Einwohner werden um 47 Prozent steigen. Alleine durch die demographische Alterung werden die Ausgaben der GKV um 22 Prozent und der Beitragssatz auf 21 Prozent ansteigen, medizinisch-technische Fortschrittseffekte sind bei diesen Berechnungen noch gar nicht mitgezählt (siehe Fritz-Beske-Institut, Gesundheitsversorgung 2050, Kiel 2007).

Berechnungen von Birg und Frank Niehaus vom wissenschaftlichen Institut der privaten Krankenkassen zeigen, wie altersbedingt die Krankheitskosten ansteigen. Bis zum 50. Lebensjahr minimal, dann aber immer stärker ansteigend, um bei 90 Jahren wieder etwas abzuflachen. Die Pro-Kopf-Ausgaben der Alterskohorte der 80- bis 90jährigen sind zehnmal so hoch wie die der unter 20jährigen.

Demographie ist eine gefährliche Wissenschaft. Ihre Aussagen sind in Zeiten der „Political Correctness“ systemgefährdend. Deswegen wurde auch das Birg-Institut (Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld) im Jahre 2004 geschlossen, ebenso die zwei Lehrstühle für Bevölkerungssoziologie in Bamberg und Berlin. Man möchte nicht mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert werden und steckt lieber den Kopf in den Sand. Und so entwickelt man pseudowissenschaftliche, dem Establishment gefallende Beschwichtigungstheorien, die besagen, daß alles gar nicht so schlimm werde.

Beschwichtigungstheorien im Gesundheitswesen sind das Konzept von den abnehmenden Sterbekosten im Alter und die sogenannte „Kompressionstheorie“. Beide Konzepte werden in Deutschland beispielsweise von dem Gesundheitsökonomen Bert Rürup (SPD) vertreten. Schlimm dabei ist, wie Birg richtig schreibt, daß diese Beschönigungen der Situation von den meisten Funktionären des Gesundheitssystems geteilt werden; sie sind eben auch nur Profiteure des gegenwärtigen Systems.

Das Konzept der abnehmenden Sterbekosten geht dabei davon aus, daß 80 Prozent aller Krankenkassenleistungen in den letzten beiden Jahren vor dem Tod anfielen. Mit zunehmendem Alter sänken dabei die Sterbekosten: für einen 50jährigen würde eben medizinisch mehr getan als für einen 90jährigen. Die Alterung der Bevölkerung habe so einen Kostendämpfungseffekt, weil die Sterbekosten geringer würden.

Bei dieser Rechnung stimmt so gut wie alles nicht. Weder ist wahr, daß in den letzten zwei Jahren vor dem Tod 80 Prozent aller Krankheitskosten anfallen, noch kann man die tatsächlich im Alter absinkenden Sterbekosten mit den Kosten für Gesundheit insgesamt in einen Topf werfen. Die mit dem Alter steiler werdende Kurve der Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit überschreitet bei weitem den kostensenkenden Teileffekt der Sterbekosten. Wer so mit den Sterbekosten hantiert, betreibt Statistik nach dem Motto: Links am Hasen vorbeigeschossen, rechts am Hasen vorbeigeschossen, im Durchschnitt ist der Hase tot. Genauso unsinnig ist die Kompressionstheorie.

In der Kompressionstheorie wird das Leben des Menschen in zwei Phasen eingeteilt: in eine gesundheitsgeprägte Phase bis etwa zum 55. Lebensjahr und in eine krankheitsgeprägte Phase, die von 55 bis zum Tode dauert. In früheren Zeiten mit der Dominanz der Infektionskrankheiten war die „morbiditätsgeprägte“ Lebensphase kurz – wer krank wurde, genas entweder schnell oder starb schnell. Die Moderne mit ihrem Siegeszug der naturwissenschaftlich erfolgreichen Medizin und der Dominanz von chronisch-degenerativen Erkrankungen hat nun dazu geführt, daß der Mensch zunehmend eine lange krankheitsgeprägte Lebensphase durchlebt. Die moderne Medizin hat erwirkt, daß der Mensch an den großen Zivilisationskrankheiten nicht so schnell stirbt, er überlebt die morbiden Attacken, wird aber dann nicht mehr völlig gesund, sondern zum chronischen Dauerpatienten des Gesundheitssystems.

Für die meisten Politikbereiche in Deutschland gilt: Das politische Führungspersonal hat gewollt oder ungewollt den Überblick verloren. Sie können zwischen dem Wünschbaren und Machbaren nicht mehr unterscheiden. So auch im Gesundheitswesen.

Neben den Lebensumständen sorgt auch das Gesundheitssystem dafür, daß die Menschen immer älter werden. Da aber diese älteren Menschen nicht krankheitsfrei älter werden, droht das System an seinen eigenen Erfolgen zu ersticken. Die medizinischen Erfolge führen dazu, daß die gesellschaftliche Krankheitslast steigt. Der Gesundheitsökonom Walter Krämer hat in seinem Buch „Wir kurieren uns zu Tode“ diesen Effekt des Systems, daß wir trotz Krankheit und mit Krankheit überleben, als „half-way-technology“ der Medizin beschrieben: Die Medizin erwirkt keine vollständige Gesundung („restitutio ad integrum“), sie erwirkt, daß wir am Leben bleiben, aber nicht mehr ganz gesund werden.

So konstatiert Krämer ein Paradoxon des medizinischen Fortschritts: „Sofern die Statistiken der Todesursachen überhaupt etwas über die Qualität der medizinischen Versorgung aussagen, dann doch dies: je größer der Anteil der Krebs­toten und Herz-Kreislauf-Opfer, desto besser die Versorgung, desto länger das Leben und desto höher die Lebensqualität“. Aber eben auch um so teurer die medizinische Versorgung.

Nun konnte man in den letzten Jahrzehnten feststellen, daß sich die Gesundheit der älteren Bevölkerung verbessert. Die Siebzigjährigen sind heute gesünder als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Forcierte man diesen Trend (beispielsweise durch Präventionskampagnen), so die Befürworter der Kompressionstheorie, so könnte man die gesundheitsgeprägte Lebensphase verlängern. Man würde gleichsam die morbiditätsgeprägte Lebensphase zeitlich immer mehr zusammendrücken, eben „komprimieren“, bis zu der fiktiven Situation, daß der Mensch praktisch aus voller Gesundheit heraus stirbt – ein Idealfall für die Krankenversicherung. Unter den Bedingungen der Kompression der Morbidität hätte die Alterung der Bevölkerung keinen kostentreibenden Effekt auf die Krankenversicherung und das Gesundheitswesen. Die sich abzeichnende demographische Katastrophe wäre zumindest für den Gesundheitsbereich entschärft.

Leider ist das Ganze konstruiert und damit tatsächlich fiktiv. Denn um einen Kompressionseffekt zu erzielen, müßte der Todeszeitpunkt relativ konstant bleiben, nur so könnte sich die gesunde Lebensphase an den (dann stationären) Tod annähern. Der Todeszeitpunkt ist aber nicht zeitlich stationär, die Lebenserwartung steigt. Im Gegenteil: Vielmehr zeichnet sich ab, daß, wenn sich der Gesundheitszustand der Senioren verbessert, der Tod in einem beschleunigten Tempo weiter nach hinten verschoben wird und sich sogar die morbiditätsgeprägte Lebensphase noch verlängert. Gerade weil die Menschen gesünder werden, ist davon auszugehen, daß die morbiditätsgeprägte Lebensphase prolongiert und nicht komprimiert wird. Es kann also keine Entwarnung gegeben werden. Mit zunehmendem Alter steigen die Krankheitskosten, und diese werden unfinanzierbar, wenn nicht genügend junge Menschen nachwachsen, die im Sinne des Generationenvertrages diese Belastungen schultern.

Für die meisten Politikbereiche in Deutschland gilt: Das politische Führungspersonal hat gewollt oder ungewollt den Überblick verloren. Sie können zwischen dem Wünschbaren und Machbaren nicht mehr unterscheiden. Das gilt auch für das Gesundheitswesen.




Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über soziale Netzwerke und die PR-Generation („Wir Narzißten“, JF 4/15).