© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Ein europäisches Staatsvolk gibt es nicht
Eurokrise: Der Ökonom Heiner Flassbeck warnt vor dem Desaster einer politischen wie einer Transferunion / Schuldenerlaß oder konfrontativer Grexit?
Jörg Fischer

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel, das endlose Spardiktat, das Europa den Menschen in Griechenland aufgezwungen hat, funktioniert einfach nicht“, klagte vorige Woche der Hamburger Wirtschaftsprofessor Heiner Flassbeck zusammen mit den Fachkollegen Thomas Piketty (Paris), Jeffrey Sachs (New York), Dani Rodrik (Harvard) und Simon Wren-Lewis (Oxford) in einem offenen Brief an Angela Merkel.

Die griechischen Staatsschulden seien „auf unbezahlbare 175 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ angestiegen, die sogenannten Anpassungsprogramme hätten „Auswirkungen, die man seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 in Europa nicht mehr gesehen hat. Die Medizin, die in Berlin und Brüssel zusammengebraut wird, ist schlimmer als die Krankheit selbst“, so die Autoren.

Welche Medizin Flassbeck verordnen würde, hat der frühere Chefvolkswirt der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz Unctad in seinem neuesten Buch zusammen mit dem griechischen Ökonomen Costas Lapavitsas skizziert. Der Titel ist zugleich Programm: „Nur Deutschland kann den Euro retten“ glauben die beiden Linkskeynesianer.

Euro-„Superstaat“entrechtet die Völker

Mit dieser These stehen sie keineswegs allein, in Europa und Amerika fordern zahlreiche Ökonomen und Politiker unterschiedlicher Couleur Deutschland auf, Schulden radikal zu erlassen und Griechenland im Euro zu halten. Den Neocons geht es dabei aber vor allem um geostrategische Interessen – Stichworte Rußland, Mittelmeer, Nahost.

Flassbeck argumentiert dagegen klassisch sozialdemokratisch, beklagt wachsende Armut und Arbeitslosigkeit sowie Korruption, Steuerflucht und falsche Buchführung der Vorgängerregierungen in Griechenland. Anders als die Euro-Kritiker der ersten Stunde sieht Flassbeck in der Währungsunion „nicht notwendigerweise von vornherein eine schlechte Idee“. Doch die funktioniere nur, wenn die Euro-Staaten „das gemeinsame Inflationsziel akzeptieren und das externe Gleichgewicht erhalten, indem sie die Löhne an die nationale Produktivität anpassen“, doziert Flassbeck. Länder, die über ihre Verhältnisse lebten, seien genauso problematisch wie solche, die unter ihren Verhältnissen lebten – zu ersteren zählten Griechenland oder Italien, zu letzterem Deutschland.

Deshalb reiche es nicht, die griechischen Schulden zu restrukturieren und zu senken – die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse blieben davon unberührt. Deutschland müßte die Binnennachfrage stärken, die Löhne erhöhen und Unternehmenssteuern „auf ein normales Maß anheben“. Doch das sei derzeit illusorisch. Die Exportorientierung werde „mit Zähnen und Klauen verteidigt“. Deshalb steuere die Eurozone auf ein Desaster zu – und „der letzte Akt beginnt“, wie es treffend im Untertitel des Buches heißt.

Flassbeck, für dessen Buch Oskar Lafontaine eine eurokritische „Vorbemerkung“ verfaßte, schießt dabei gegen schwarz-gelbe wie rot-grüne Rettungskonzepte: „Weder eine politische Union noch eine Transferunion sind plausible Lösungen für die Währungsunion“, denn ein völlig vereintes Europa sei nur ein Traum, „der nicht das politische Handeln leiten sollte“: Weder gebe es ein europäisches Staatsvolk, „noch besteht eine realistische Aussicht, daß ein solcher demos in der absehbaren Zukunft entstehen könnte“.

Statt dessen würden „die demokratischen Rechte der europäischen Völker durch jegliche weiteren Bestrebungen, in der Hoffnung auf Schaffung eines europäischen ‘Superstaats’ oder einer politischen Union die Nationalstaaten in Europa zu umgehen, gravierend kompromittiert“, warnt Flassbeck. Der Versuch, eine „politische Union schneller herbeizuführen, indem man eine Währungsunion gründet, ist weitgehend fehlgeschlagen und hat Europa in einem schlechteren Zustand zurückgelassen als zuvor“, konstatiert Flassbeck.

Der 2014 verstorbene Ökonom Wilhelm Hankel wußte das schon früher: „Der Euro spaltet Europa und reißt es in den Abgrund.“ Flassbeck formuliert es akademischer: „Die Institutionalisierung eines Systems von Fiskaltransfers, um mit Haushalts- und/oder Leistungsbilanz­ungleichgewichten in der Währungsunion umzugehen, wäre ein Rezept für tiefgreifende nationalistische Spannungen in der Zukunft.“ Athen sollte die Schuldenbedienung einstellen und den Grexit nicht scheuen: „Ein konfrontativer Austritt wäre ein schwieriger Prozeß, aber absolut zu bewältigen.“ Flassbeck hat hierzu einen Neun-Punkte-Plan skizziert, der sich nicht grundsätzlich von Hankels oder Hans-Werner Sinns Parallelwährungskonzepten unterscheidet.

Offener Brief an Angela Merkel: www.flassbeck-economics.de

Heiner Flassbeck, Costas Lapavitsas: Nur Deutschland kann den Euro retten. Westend Verlag, Frankfurt 2015, 185 Seiten, broschiert, 14,99 Euro