© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Trainieren mit dem eigenen Gewicht
Wenn das Turnvater Jahn noch erleben könnte: Trendsportart Calisthenics auf dem Vormarsch
Heiko Urbanzyk

Gib niemals auf!“, ermutigen die dänischen Bar Brothers potentielle Anfänger in einem ihrer Youtube-Videos. Die Bar Brothers (wörtlich: Stangenbrüder) sind Anhänger eines neu-alten Trendsports aus den USA, den Calisthenics. Die weltweit aktiven Gruppierungen der Bar Brothers bringen diejenigen Geräte zu neuer Ehre, die wir aus dem klassischen Schulturnen kennen: Barren, Reck und Balken.

Beim Calisthenics (griechisch: kalos, „schön“, „gut“ und sthenos „Kraft“) wird hauptsächlich mit dem eigenen Körpergewicht trainiert, über eine Reihe von einfachen, oft rhythmischen Bewegungen. Dabei werden nicht wie im Bodybuilding Muskeln isoliert angesprochen, sondern ein großer Teil des gesamten Muskelapparates. Trainingsgeräte und Zubehör braucht man im allgemeinen nicht. Klassische Klimmzüge, Liegestütze, Kniebeugen und Ausfallschritte und deren Variationen zählen zu den gängigen Übungen. Wer durchhält und konsequent trainiert, der holt an Kraft, Körperspannung und Beweglichkeit nicht für möglich Gehaltenes aus sich heraus. 16jährige verwandeln sich innerhalb eines Jahres durch den auch Streetworkout genannten Sport vom Hänfling zum Muskelprotz. Hingabe und Willenskraft sind das Erfolgsrezept, wie bei so vielem.

Der auf Youtube in Menge zu begutachtende Extremsport scheint den Sportlern einfach von der Hand zu gehen. Die gestählten Körper zeigen allerdings klar, daß hier wahrhaftige Kraftprotze am Werk sind, die der Schwerkraft trotzen. Wer solche Leistungen vollbringt, wird das selten als Einzelkämpfer durchstehen. 

Der Trimm-dich-Pfad kommt zu neuen Ehren

Muß er auch nicht. Calisthenics ist als Gemeinschaftssport angelegt, wo einer dem anderen Hilfestellung gibt und motivierend zur Seite steht, um immer sein Bestes zu geben. Unter dem Motto: Vergleich dich nicht mit anderen. Vergleich dich mit der Person, die du gestern warst. Quasi um der teuren Mitgliedschaft in einem Fitneßstudio zu entgehen, ist eine Turngemeinschaft entstanden, die sich über die ganze Welt erstreckt. Mittlerweile gibt es in vielen deutschen Orten Calisthenics treibende Gruppen, Junge wie Alte, Sportler und Nichtsportler, die unter freiem Himmel winters wie sommers regelmäßig trainieren – der gute alte Trimm-dich-Pfad kommt zu neuen Ehren, und die Termine für die Treffen gehen unkompliziert über Facebook.

In Anfängervideos läßt sich abgucken und lernen, wie es geht. „Mach das Beste aus dir!“ – und trainiere die Grundübungen zwei Monate lang jeden zweiten Tag. Wer relativ untrainiert ist und Klimmzüge und Liegestütze spaßeshalber mal ausprobiert, wird verstehen, wie schwierig diese Übungen sind. Ein guter Feierabendläufer muß längst nicht dazu in der Lage sein, an einer Turnstange sein eigenes Körpergewicht heben zu können.

Bei den Profis sieht es schon ganz anders aus: Die Klimmzüge werden in alle Richtungen vollzogen, waagerecht und senkrecht oder in der Diagonalen, und weil Könnern sogar das zu einfach ist, werden Klatschübungen vor dem Bauch und hinter dem Rücken eingebaut oder das Drehen um die eigene Achse. Eine weitere Übung gehobener Art sind Klimmzüge mit nur einem Arm, Handstandlaufen sowie das Umschnallen einer Gewichtsweste. Doch die Kür ist ohne Zweifel die „menschliche Flagge“: Dazu greift der Calistheniker eine senkrechte Stange und richtet seinen gestreckten Körper dazu im rechten Winkel aus. Wahnsinn.

Diese I-Tüpfelchen auf die altbekannten Turngeräteübungen machen Calisthenics heute aus. Dabei waren es Schüler von Friedrich Ludwig Jahn, die im 19. Jahrhundert ihre Version gymnastischer Übungen in die Neue Welt brachten, wo sie sich abgewandelt und mit Elementen aus anderen Sportarten wie auch aus Breakdance und Rap kombiniert in den öffentlichen Sportparks von New York etablierte. Was hier die Berliner Hasenheide, sind dort die öffentlichen Sportparks und Grünanlagen zur körperlichen Ertüchtigung. Der Geist des deutschen Turnvaters lebt in den Stangenbrüdern weiter.