© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Zuviel Schwarzweißmalerei
Vor zwanzig Jahren erschütterte das Massaker von Srebrenica Europa / Viele Fragen blieben ungeklärt
Wolfgang Kaufmann

Folgt man der Argumentation des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und weiterer juristischer Instanzen der Uno sowie des niederländischen Staates, ist die Sachlage klar und eindeutig: In Ausführung der „Direktive Nummer 7“ des Serbenführers Radovan Karadžic stürmten etwa 15.000 Kämpfer des Drina-Korps der Streitkräfte der Republik Srpske (VRS) während des Bosnienkrieges die UN-Schutzzone rund um die mehrheitlich von Moslems bewohnte Stadt Srebrenica. Anschließend ermordeten die Angreifer, welche unter dem Kommando des Divisionsgenerals Radislav Krstic standen und gemeinsam mit serbischen Freischärlern agierten, zwischen dem 12. und 17. Juli 1995 an die 8.000 zumeist männliche Bosnier islamischen Glaubens. Dabei schauten die in Potocari stationierten niederländischen Blauhelmsoldaten der United Nations Protection Force (Unprofor) diesem „Völkermord“ beziehungsweise „schwerstem Kriegsverbrechen in Eu-ropa seit 1945“ tatenlos zu.

Tatsächlich jedoch verhielt sich das Ganze deutlich komplizierter. Zum ersten stand in der 900 Quadratkilometer großen UN-Schutzzone von Srebrenica die 28. Division der Armee Bosnien-Herzegowinas (ARBiH). Deren Angehörige terrorisierten seit dem Mai 1992 die christlich-serbische Minderheit in der Region. Ein Beispiel hierfür ist das Massaker von Kravica. Hier metzelten die bosnischen Dschihadisten am 7. Januar 1993 um die fünfzig Menschen nieder, darunter auch Kleinstkinder. 

Insgesamt dürften den Übergriffen, die vor allem der Initiative des lokalen ARBiH-Kommandeurs Brigadegeneral Naser Oric entsprangen, mehrere tausend orthodoxe Serben zum Opfer gefallen sein; darüber hinaus wurden an die 200 nichtmuslimische Dörfer niedergebrannt und deren Kirchen und Friedhöfe geschändet. Somit handelte es sich bei Srebrenica keinesfalls um eine entmilitarisierte Zone, in der sich lediglich unschuldige bosnische Zivilisten befanden.

Zum zweiten war der Kommandeur des rund 500 Mann umfassenden holländischen Unprofor-Kontingents Dutchbat III, Oberstleutnant Thomas Karremans, sehr wohl bereit gewesen, mit Waffengewalt gegen die vielfach überlegenen VRS-Verbände vorzugehen, um die Bewohner der Enklave zu schützen. Allerdings verweigerte man ihm die hierfür zwingend notwendige Unterstützung durch Kampfflugzeuge der Nato. Verantwortlich für diese fatale Entscheidung war der französische Lieutenant-General Bernard Janvier, seines Zeichens Oberbefehlshaber der UN-Truppen in Bosnien und Kroatien, welcher wiederum auf direkten Befehl von Staatspräsident Jacques Chirac handelte. 

Im Hintergrund spielte Paris eine dubiose Rolle 

Der hatte seinem serbischen Amtskollegen Slobodan Miloševic im Juni 1995 explizit zugesichert, daß es keine Nato-Luftangriffe geben werde. Dabei stellt sich die Frage, ob Chirac damit wirklich nur französische Geiseln schützen wollte, wie es offiziell hieß, oder ob noch ganz andere, politische Gründe dafür vorlagen, Srebrenica preiszugeben – immerhin erleichterte die nachfolgende „ethnische Säuberung“ das Zustandekommen des späteren Friedensabkommens von Dayton. 

Denkbar wäre auch der Versuch, die Serben in die Falle zu locken, um eine Handhabe für weitere Repressionsmaßnahmen gegen Belgrad zu haben: erst tolerierte der Westen den Vernichtungsfeldzug gegen die serbischen Bauern in der Enklave, dann gab er der nach Rache dürstenden VRS plötzlich den Weg nach Srebrenica frei. Auf jeden Fall aber spielte Paris bei den Vorgängen vom Juli 1995 eine ähnlich dubiose Rolle wie anläßlich des Genozids an den Tutsi in Ruanda im Jahr zuvor (JF 15/14).

Zum dritten ist auch die exakte Zahl der muslimischen Opfer des serbischen Einmarschs nach wie vor ungeklärt. Die Frage wurde nicht exakt beantwortet, wie viele der Toten von Srebrenica denn nun tatsächlich exekutiert und wie viele im Verlaufe der tagelangen heftigen Gefechte zwischen ARBiH und VRS starben. Immerhin sprachen Augenzeugen wie der ARBiH-Offizier Nesib Buric von 2.000 bis 3.000 Gefallenen auf seiten der 28. Division, die natürlich auch in den Massengräbern rund um die Stadt liegen und Schußverletzungen aufweisen. Und wieso tauchten nicht wenige der angeblich von den Serben Ermordeten später in Wählerlisten oder gar im Ausland auf? So mußte inzwischen sogar das überaus parteiische „Research and Documentation Center“ in Sarajevo einräumen, daß man immer wieder Lebende finde, die auf der offiziellen Srebrenica-Verlustliste stünden.

Außerdem gibt es glaubwürdige Berichte über „Säuberungsaktionen“, bei denen die Parteigänger Orics, welche oftmals mafiösen Gruppierungen angehörten, muslimische Bosnier in der Enklave eliminierten, als die Truppen Krstics vorzurücken begannen. Auf diese Weise starb beispielsweise Azem Bajramovic, seinerzeit Mitglied des Präsidiums der islamischen Partei der demokratischen Aktion Bosniens (SDA), der ganz offenkundig aus dem Wege geräumt wurde, weil er wußte, daß sich der Kreis um Oric an UN-Hilfslieferungen bereichert hatte. Demgegenüber verschonten die Serben den von ihnen gefangengenommenen SDA-Chef von Srebrenica, Ibran Mustafic, und ließen ihn mit anderen Flüchtlingen nach Tuzla abziehen, was die These eines geplanten, systematischen Vernichtungsfeldzugs gegen die bosnischen Muslime nicht unbedingt stützt.

Dennoch wurden Radislav Krstic und andere führende Offiziere der VRS wie Ljubiša Beara und Vujadin Popovic in Den Haag zu Haftstrafen zwischen Lebenslänglich und 35 Jahren verurteilt. Hingegen kam Naser Oric, den die Franzosen dann eilends aus dem belagerten Srebrenica ausgeflogen hatten, um ihm die Konfrontation mit den Serben zu ersparen, mit einer läppischen Strafe von zwei Jahren Freiheitsentzug davon, die er zudem nicht einmal absitzen mußte. Und sein Vorgesetzter, der ARBiH-Generalstabschef Sefer Halilovic, konnte sich sogar über einen Freispruch erster Klasse freuen, obwohl er nicht nur für Orics „Heiligen Krieg“ rund um Srebrenica mitverantwortlich zeichnete, sondern auch für die Ermordung bosnischer Kroaten in Grabovica und Uzdol.

Von außen aufgepäppelte „Glaubenskrieger“

Noch weniger juristische Aufmerksamkeit erfuhren freilich die Aktivitäten griechischer Söldner sowie der Angehörigen der bosnischen Kampfeinheit „El Mudžahid“. Die ersteren kämpften mit stillschweigender Duldung der Regierung in Athen in den Reihen der Serben und waren möglicherweise auch an den Tötungsaktionen in Srebrenica beteiligt. Die letzteren stammten aus dem arabischen Ausland und wurden sowohl vom Iran als auch der CIA finanziert und ausgerüstet. Diese von fremden Mächten aufgepäppelten „Glaubenskrieger“ begingen ebenfalls zahlreiche Greueltaten an serbischen Christen, welche einen weiteren Grund dafür bieten, das Geschehen von Srebrenica als blutige Vergeltung der Serben für unzählige vorausgegangene Kriegsverbrechen gegenüber ihren eigenen Landsleuten zu werten. 

Insofern sollte man auf bosnischer beziehungsweise muslimischer Seite Zurückhaltung üben und darauf verzichten, die Opfer von Srebrenica zu „Blutzeugen“ für einen herbeiphantasierten „Kreuzzug“ gegen den Islam hochzustilisieren – egal wie viele Zivilisten nun wirklich vor zwanzig Jahren während der Besetzung der Enklave durch serbische Hand starben.

Foto: Bosnierin trauert um ermordete Angehörige in Srebrenica: Glaubwürdige Zweifel an einem systematischen Vernichtungsfeldzug der Serben