© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Europas Untergang: Eine Dystopie
Was auf uns zukommt
Ludwig Witzani

Die große Zeit Europas geht zu Ende. Im Rückblick wird sie sich ohnehin nur als eine Episode erweisen, eine Episode der Weltgeschichte, die mit der Renaissance, dem Aufschwung der europäischen Naturwissenschaft und der Epoche der Entdeckungen begann und die im 21. Jahrhundert enden wird. Was werden die entscheidenden Triebkräfte und Etappen dieses Niedergangs sein?

? Eine nachlassende wirtschaftliche Dynamik: Die freizeitorientierten und satten hedonistischen Gesellschaften Europas werden mit den arbeitsbereiten und hochqualifizierten Akteuren Indiens und Chinas immer weniger konkurrieren können. Der einfache Inder und Chinese ist schon heute keineswegs weniger leistungsfähig als der Europäer – nur unendlich viel leistungsbereiter und noch immer in jene Primärverbände integriert, ohne die Flexibilität auf Dauer nicht zu bewerkstelligen ist. Eine globalisierungsgerechte Anpassung mit geringeren Löhnen und längeren Arbeitszeiten erweist sich in den westeuropäischen Demokratien als politisch nicht durchsetzbar. Großen Teilen der arbeitsfähigen Bevölkerung gelingt es statt dessen immer besser, sich in die Nischen des Wohlfahrtsstaates auf pseudoproduktive Positionen zu flüchten. Künftige Gleichstellungs-, Minderheiten-, Flüchtlings- und Antirassismusbeauftragte absolvieren neue universitäre Studiengänge, während die Zahl der MINT-Absolventen steil absinkt.

Im Angesicht der sich verschärfenden Wirtschaftskrisen werden nicht nur die Steuern erhöht, auch die Rufe nach einer Ausweitung der Staatstätigkeit werden immer lauter. Populistische Linksparteien gewinnen die Wahlen, so daß der Wohlfahrtsstaat nicht zurückgeschnitten, sondern noch weiter ausgebaut wird. Obwohl der Export von Arbeitsplätzen und Kapital sich beschleunigt, gelingt es noch eine Zeitlang, den Lebensstandard der Massen mit den Mitteln einer immer abenteuerlicheren Staatsverschuldung zu bewahren. Aber dann fällt das Pro-Kopf-Einkommen, zuerst langsam, dann immer stärker. Wenn schließlich sogar die Regierungen der westeuropäischen Staaten ihre Schulden nicht mehr bedienen können, bricht der Euro zusammen, und die Börsen erleben einen Jahrhundertcrash.

Nach dem Austritt Großbritanniens (2016), Irlands (2017), Finnlands, Schwedens, Dänemarks (2018), Österreichs, Ungarns und der baltischen Staaten (2019) verlangen die weniger entwickelten Restmitglieder der Europäischen Union permanente Transferzahlungen als Gegenleistung für die Beibehaltung des freien Binnenmarktes. Die europäischen Länder, die durch den Eurocrash den größten Teil ihres Auslandsvermögens, ihres Kapitalstocks und ihrer Altersrückstellungen eingebüßt haben, beginnen eine strikt protektionistische Politik, die innerhalb von fünf Jahren den europäischen Handel halbiert. Die Verdoppelung der Energiepreise im Zuge der mißglückten Energiewende führt in den meisten europäischen Staaten zur Abwrackung von Windrädern und Sonnenkollektoren und zum Bau von Kernkraftwerken, mit deren Sicherheitsbestimmungen man es aus Kostengründen nicht mehr so genau nehmen kann.

Die mitteleuropäischen Städte haben sich in Orte des Überlebenskampfes verwandelt. Das staatliche Gewaltmonopol wird nur noch fiktiv aufrechterhalten. Kulturkämpfe bisher unbekannten Ausmaßes treten auf, stark ethnisch-religiös akzentuiert. 

? Die demographische Katastrophe: Die Bevölkerung Europas wird schrumpfen, die Sozialsysteme werden unter den Rentenlasten und den Kosten für die Gesundheit zusammenbrechen. Versuche des Staates, die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben mit sozialistischem Dirigismus zu schließen, werden das System vollends ruinieren. Ärzte werden aus dem System der gesetzlichen Krankenkassen austreten und frei nach Marktlage liquidieren.

Die Transferzahlungen der Großvätergeneration, die heute noch der Sandwich-Generation ein leidliches Auskommen erlauben, werden komplett wegfallen. Wir sehen dann einer Gesellschaft der Uralten entgegen, die mit der Jugend in Verteilungskämpfe eintreten wird, wobei erschwerend hinzukommt, daß die Mehrheit dieser Jugend eine Migrantenjugend sein wird, die weder so gut ausgebildet ist, die Älteren entsprechend dem Generationenvertrag zu ernähren, noch überhaupt den Willen dazu hätte.

? Ein innenpolitischer Absturz in das Chaos: Eine seit den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Anstrengung, Disziplin und Verantwortung abstrahierende Pädagogik hat eine Generation von Anspruchsenthusiasten entstehen lassen, denen es sowohl an der Fähigkeit wie an der Bereitschaft mangelt, ihre Konsumwünsche durch Leistung zu erfüllen. Eine immer stärker sozialpädagogisch agierende Justiz hat außerdem dazu geführt, daß innerhalb der diversen Jugendkulturen die Geltung von Rechtsnormen eine Frage der Beliebigkeit geworden ist. Eine explosive Zunahme der Gewaltkriminalität und des Drogenkonsums sind die Folgen. Masseneinwanderung aus Afrika und Osteuropa haben diesen Prozeß noch gefördert, so daß sich die mitteleuropäischen Städte in Orte des Überlebenskampfes verwandeln werden.

Das staatliche Gewaltmonopol wird ab 2020 nur noch rein fiktiv aufrechterhalten, die wenigen Wohlhabenden, die es noch gibt, schützen sich durch Sicherheitsdienste, die Verarmten besorgen sich Waffen und bilden Nachbarschaftsbündnisse. Es erschüttern uns Kulturkämpfe bisher nicht bekannten Ausmaßes, Kämpfe, die eine immer stärker akzentuierte ethnisch-religiöse Note erhalten. Die Aufstände in den französischen Banlieues und die Plünderungsorgien in englischen Vorstädten waren nur ein Vorgeschmack dieser Entwicklung. Volksparteien gibt es schon lange nicht mehr, statt dessen dominieren regional, berufsspezifisch oder ethnisch ausgerichtete Parteienbündnisse.

? Das Verschwimmen von Europas Identität: Die seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ablaufende Masseneinwanderung hat die europäische Bevölkerungsstruktur völlig verändert. Allein in Deutschland gehören von elf Millionen der zwischen 2005 bis 2025 Eingebürgerten zehn Millionen zur Gruppe der Geringqualifizierten, während in der gleichen Zeit sechs Millionen Hochqualifizierte und Wohlhabende ausgewandert sind.

Die gegen den Willen der autochthonen europäischen Bevölkerung durch die politischen Eliten ab 2014 durchgesetzte muslimische Masseneinwanderung aus Afrika und Vorderasien hat das Erscheinungsbild nahezu aller europäischen Großstädte tiefgreifend verändert. Der weitere Vormarsch des islamischen Fundamentalismus führt zu Bastionen von Parallelgesellschaften mit ausgeprägtem Antisemitismus und Scharia-Justiz – etwas später auch zu Auseinandersetzungen zwischen arabischen, iranischen und türkischen Gruppierungen, die fallweise aus ihren Heimatländern ferngesteuert werden.

? Die Familien gehen zugrunde: Die Familien als Keimzellen der Gesellschaft werden durch den Zusammenbruch der staatlichen Sozial- und Schutzsysteme sowie die zunehmende Kriminalität und Armut sich nicht wieder reaktivieren, denn sie sind zum größten Teil zerschlagen. Der Individualismus, der seit der Renaissance als Ausweis höheren Menschentums galt, hat in seiner schrankenlosen Variante zu einer völlig atomisierten Gesellschaft geführt. Vielweiberei und Geschwisterehe werden in allen westlichen Demokratien legalisiert, Alkohol- und Drogenmißbrauch zersetzen die Mittelschichten, Kindstötung, Inzest und Promiskuität werden aus den Tabuzonen heraustreten und teils vergleichgültigt, teils zur Norm werden. Neue Familienformen, bei denen Versorgung und Schutz im Vordergrund stehen, entwickeln sich erst allmählich.

Europa erlebt eine wahre Auswanderungswelle, die der aus dem 19. Jahrhundert bekannten in nichts nachsteht. Deutsche, Briten und Franzosen flüchten in die noch leidlich stabilen Peripherien der USA, Kanadas, Australiens und Neuseelands.

Die USA erleben eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen dem Küsten- und dem Inlandsamerika, wie sie sich schon bei den Wahlkämpfen am Beginn des 21. Jahrhunderts angedeutet hatte. Dabei obsiegt aufgrund ihrer religiösen Überzeugung und ihrer größeren Fertilität das Inlandsamerika. Es kommt zu einer religiösen Renaissance, die weit über alles hinausgeht, was bisher bekannt war. Pornographie, freier Sex, zügellose Meinungsfreiheit und Drogenmißbrauch werden geahndet, die Erziehung strikt reglementiert. Isolationistische Politik wird immer dominanter. Die ersten Hilfsprogramme für Europa laufen an, werden jedoch aufgrund der zunehmenden Amerikafeindlichkeit in Europa sowie der Islamisierung der Alten Welt bald wieder eingestellt.

? Ab 2025 schwellen die heute schon spürbaren Auswanderungstendenzen aus Europa zu einer wahren Auswanderungswelle an, die der aus dem 19. Jahrhundert bekannten in nichts nachsteht. Nun flüchten deutsche, britische und französische Europäer vor Überfremdung, Gewaltkriminalität und Elend in die noch leidlich stabilen Peripherien der USA, Kanadas, Australiens und Neuseelands. Eine Auswanderung nach Südafrika ist seit der Etablierung einer Xhosa-Diktatur am Kap seit 2020 nicht mehr möglich. Die Flucht aus Westeu­ropa nimmt schließlich Züge an, die an die Fluchtbewegung aus der alten DDR erinnert. Kein Wunder, daß die Auswanderungswilligen zunehmend stärker diskriminiert werden – zuerst werden die Bewohner bei ihrer Auswanderung enteignet (Auswanderungsabgabe), dann wird die Auswanderung verboten, und ein illegaler Transfer beginnt. Erst als die Einwandererstaaten diese Zuwanderung scharf unterbinden, endet dieser Prozeß.

 ? Im Schatten dieser Entwicklung wird das kommunistische China zur Mitte des 21. Jahrhunderts wieder der mächtigste Staat der Welt. Was während der längsten Zeit der Weltgeschichte Normalfall war, hat sich wieder eingependelt. Korea und Japan existieren nur noch als halbsouveräne Vasallen Chinas. Auch die internationale Forschung hat sich nach Ostasien verlagert: Atomenergietechnik, Fusionsenergiegewinnung, Gentechnologie, neuartige Techniken der Massenkommunikation etc. haben nun ihr Zentrum in Shanghai, Seoul, Tokio und Hongkong. Durch den Export von Ergebnissen und Produkten der neuen Wissenschaftsrevolution, die in Europa Ende des 20. Jahrhunderts radikal abgewürgt worden war, erwirtschaften die asiatischen Volkswirtschaften gewaltige Überschüsse. 2023 übersteigt zum ersten Mal das Pro-Kopf-Einkommen Chinas dasjenige von Deutschland und Frankreich.

Im Schatten Chinas verbleiben nur noch ein autoritär-kryptokommunistisch regiertes Rußland und ein halbdemokratisches Amerika. Lateinamerika und Afrika, die Kontinente mit den höchsten Fortpflanzungsraten, versinken in Chaos und unbeschreiblichem Elend. Da die USA, Rußland, Indien

und China ihre Grenzen geschlossen haben, erreichen unaufhörlich neue Flüchtlingswellen Westeuropa, das ab 2040 alle Züge einer zusammenbrechenden Gesellschaft aufweist. Ein neues „Dunkles Zeitalter“ hat begonnen, und niemand weiß, wie lange es dauern wird.

Dystopien werden von Optimisten geschrieben, hat der polnische Philosoph und Science-fiction-Autor Stanislaw Lem behauptet. Es sind Optimisten, weil sie hoffen, daß ihre negativen Utopien dazu beitragen, den Blick für eine mögliche Zukunft zu schärfen, damit man den Gang der Dinge noch verbessern kann.




Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Reisejournalist. Er verfaßte Reiseberichte für große Tageszeitungen und Journale wie die FAZ, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Merian und andere. Auf dem Forum schrieb er bisher ein Plädoyer gegen die „Verschutzung“ der Gesellschaft („Subtile Gängelung“, JF 41/14).