© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Buntes religiöses Leben
Ruhrpott in Spätantike und Frühmittelalter: Eine Ausstellung in der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein in Essen
Heiko Urbanzyk

Mit der Spätantike und dem Frühmittelalter zwischen Rhein, Ruhr und Lippe beschäftigt sich derzeit die Ausstellung „Werdendes Ruhrgebiet“ im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein in Essen. Wie sah es aus in den vermeintlich „dunklen Jahrhunderten“, die kaum schriftliche Zeugnisse, wohl aber Bodenfunde als Zeugnisse hinterließen? 

Seit der Antike kann eine durchgängige Besiedlung der Region durch germanische Stämme nachgewiesen werden. Die Römer könnten ein Lied davon singen. Es war ihr Limes, der das freie Germanien rechts des Rheins vom besetzten linksrheinischen Gebiet trennte und somit die Region in eine West- und Osthälfte spaltete. Erstaunlich ist die Mobilität der Menschen zu dieser Zeit. Waren aus ganz Europa und dem Orient belegen einen lebhaften Handel, der seine Spuren ebenso im sumpfigen Waldland rechts des Rheins hinterließ. Der Westfälische Hellweg als eine der zentralen Handelsrouten der Zeit machte es möglich.

In der Grenzregion herrschte ein buntes religiöses Leben. Die Legionäre brachten nicht nur ihre römischen Götter mit, sondern überdies die des Nahen Ostens. Letzteres zeigt sich im stark vertretenen Mithraskult. Während zu dieser Zeit die Religion noch nicht als Kriegsgrund herhalten mußte, ändert sich dies in den Sachsenkriegen am Ende des achten beziehungsweise Anfang des neunten Jahrhunderts. Deren Schlachten werden unter anderem in Dortmund geschlagen. Die sächsische Hohensyburg, heute Ausflugsziel und Kasinostandort, zeugt von den erbitterten Kämpfen der Truppen Karls des Großen gegen die Gefolgsleute von Herzog Widukind.

Wikinger plünderten Städte im Ruhrgebiet

In den Jahrzehnten nach Widukinds Taufe werden Ruhrgebietsstädte wie Duisburg von den Wikingern geplündert. Zudem – was wenig bekannt ist – fallen die Ungarn ein. Die in der Ausstellung dargestellte Entwicklung der Siedlungsstruktur mit Wallburgen in Marl-Sinsen und dem prächtigen Schloß Broich künden von bewegten Jahrhunderten, die auch ohne Kriegserklärungen von Überfällen und Plünderungen geprägt waren.

Im Zuge der Christianisierung bestimmten vor allem die Klostergründungen von Werden durch den Heiligen Liudger sowie das im neunten Jahrhundert gegründete Frauenstift Essen die weitere Entwicklung der Region. Exponate aus dem Werdener Klosterschatz sowie aus dem Essener Domschatz stehen entsprechend im Zentrum des Ausstellungsraumes. Der Tragealtar des Heiligen Liudger aus dem achten Jahrhundert gehört zu den Blickfängen der Ausstellung – dessen Christusdarstellung ziert die Werbematerialien der Ausstellung.

Gut gemeint, aber ermüdend ist die Vielzahl der ausgestellten Bücher. Selbst ein Büchernarr könnte sich hier die Frage stellen, welchen Sinn es hat, Evangeliare wie am Fließband zu zeigen, die am Ende für Laien nichts mehr als stumme, sich sehr ähnlich sehende Zeugen sind, deren Inhalt nicht lesbar ist. Kein Wunder, daß sich Ausstellungsbesucher vor diesen Vitrinen seltener tummeln als vor Schmuck, Waffen und Gemälden. 

Eine zentrale Kritik an der von dem österreichischen Architekten Bernhard Denkinger gestalteten Ausstellung ist die Umsetzung des Konzeptes. Was sich in den Broschüren als schlüssig darstellt, liegt in den rauchgeschwärzten, von Lichtpunkten durchzogenen Räumlichkeiten gar nicht so klar auf der Hand. Warum eröffnet sich zur Linken des Besuchers zuallererst eine (sehr interessante) Abteilung mit Exponaten zum Thema Siegfried, Widukind und Sachsenkriege? Warum findet der Gast in beträchtlicher Zahl Ausstellungsstücke aus Regionen, die definitiv nicht zum Ruhrpott gehören? Warum eigentlich waren die Klöster Werden und Essen so wegweisend für die weitere Entwicklung ihres Umlandes? 

Wer solche Fragezeichen mit gutem Willen oder kraft eigener Vorbildung übersehen kann, kommt auf seine Kosten. Von den 800 Exponaten sind viele noch nie gezeigt worden. So manches Relikt alter Tage erhält eine historische Richtigstellung zur Herkunft oder Echtheit, und das macht es spannend. 

Wer einen Besuch auf Zollverein plant, sollte neben den etwa zwei Stunden Zeit für „Werdendes Ruhrgebiet“ den Rest des Tages für die übrigen Dauerausstellungen beziehungsweise die Besichtigung des imposanten Unesco-Welterbes Zeche Zollverein einplanen. Als Gesamtpaket lohnt sich das Ruhrmuseum im Ferienprogramm auf jeden Fall.

Die Ausstellung„Werdendes Ruhrgebiet“ ist bis zum 23. August im Ruhrmuseum, Zollverein A 14 (Schacht XII, Kohlenwäsche), Gelsenkirchener Straße 181, in Essen täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog (Klartext-Verlag) mit über 400 Abbildungen kostet 29,95 Euro. Telefon: 0201 / 2 46 81-444

 www.ruhrmuseum.de