© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Jenseits der Grenzen des Anstands
Publizistik: Der „FAZ“-Mitherausgeber Jürgen Kaube erhält am Sonntag den Ludwig-Börne-Preis
Claas Nordau

In Deutschland werden jährlich 230 Literaturpreise verliehen. Rechnet man Kritiker-, Übersetzer-, Journalisten- und Lyrikpreise hinzu, kommt man auf mehr Preise als ein Jahr Tage hat. Tendenz steigend. Die Dotate liegen zwischen 250 und 50.000 Euro. Einer davon ist der Ludwig-Börne-Preis. Mit ausgelobten 20.000 Euro liegt er im Mittelfeld. Die Verleihung (12. Juli) in der Frankfurter Paulskirche (wo auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird), Sitz des ersten gesamtdeutschen Parlaments 1848, unterstreicht dennoch sein Renommee.

Es gibt ihn seit 1993, und der Namensgeber Ludwig Börne (1786–1837), Frankfurter Jude, nach seinem Zeitgenossen Heinrich Heine ein „Revolutionär“, ein „Patriot vom Wirbel bis zur Zehe“, gilt als Erfinder der Literaturform kritisches, politisches Feuilleton. Einer, der Maßstäbe setzte. Napoleons Code civil schätzte er, weil er die ersehnte Gleichstellung von Juden und Christen brachte, den Schriftsteller Jean Paul sah er als Kämpfer für die „Freiheit des Gefühls“, Johann Wolfgang von Goethe, einen anderen Frankfurter, eher als „Dilettant und Stabilitätsnarren“, und mit Heine verkrachte er sich bald. Vielleicht, weil der über seinen „judäischen Spiritualismus“ frotzelte. 

Boulevard und Provokation sind nicht seine Sache 

Eine von Börnes Maximen lautete: „Im Dienste der Wahrheit genügt nicht nur Geist, man muß auch Mut zeigen.“ Ein Motto, das durchaus auch auf die Preisträger des Börne-Preises bezogen werden sollte. Eine Besonderheit der Preisvergabe: Es gibt nur einen Juror – dieses Jahr den deutsch-israelischen Historiker Dan Diener –, der den Preisträger benennt. Das erspart Endlosdebatten zerstrittener Juroren und hebt das Bewertungsniveau in eine Sphäre geminderter Angreifbarkeit.

Marcel Reich-Ranicki, Großkritiker, Erfinder der Frankfurter Anthologie und des „Literarischen Quartetts“, mangelte es nicht an Mut; den Börne-Preis hat er gleich zweimal (1995, 2010) bekommen. Andere, wie der Theologe Richard Schröder (1997) überraschten mit Intoleranz gegenüber Atheisten. Bundespräsident Joachim Gauck war 2011 Preisträger. Die anderen sind meist gestandene Journalisten (Joachim Fest 1996, Rudolf Augstein 2001, Hans Magnus Enzensberger 2002, Frank Schirrmacher 2009, Florian Illies 2014), der 2008 zum Juror ernannte Kabarettist Harald Schmidt nominierte Alice Schwarzer, und Henryk M. Broder kündigte 2013 an, seinen Preis von 2007 zurückgeben zu wollen.

Der diesjährige Preisträger heißt Jürgen Kaube. Der 53jährige kam nach mehreren Semestern Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und einem abgeschlossenen Studium der Wirtschaftswissenschaften als Quereinsteiger in die Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, leitete die Ressorts Neue Sachbücher, Geisteswissenschaften sowie Forschung und Lehre, wurde stellvertretender Feuilletonchef und ist seit Anfang des Jahres Nachfolger von Frank Schirrmacher als Herausgeber.

Kaube schreibt viel – über 800 Beiträge für das FAZ-Feuilleton in den letzten zwanzig Jahren, mehrere Bücher, darunter eine Max-Weber-Biographie (JF 17/14), die es in Umfang und Qualität mit jeder Habilitationsschrift aufnehmen kann, moderiert mit sanfter Autorität Podiumsdiskussionen und gibt gerne Anweisungen, was einen guten Journalisten – „zügige Schreibe“ – ausmacht. Ganz gleich, ob die Rezension eines Gedichts von Günter Grass über Sex im Alter, Nachrufe, Ausstellungen oder ein „Tatort“ – Kaube schreibt geistreich und pflegt, wie der diesjährige Juror formulierte, einen Stil, der „wissenschaftliche Kultur in den öffentlichen Raum“ übersetzt und gern von anderen Journalisten zitiert wird. Boulevard und Provokation sind Kaubes Sache nicht, zuweilen kokettiert er mit Sarkasmus, bei Fußball kann er leidenschaftlich werden.

Daß „zügige“ Schreibe nicht immer mit Qualität verbunden ist, sollte ein guter Journalist wissen (Pankraz, JF 8/15). Jürgen Kaube hat durchaus dezidierte Meinungen zur Verkommenheit des Literaturbetriebs, des Profifußballs, den Plagiaten prominenter Politiker und dem Gedeihen von Minderheiten, aber das ist Mehrheitskonsens und nicht wirklich originell.

Manchmal wird er Opfer seiner Formulierungen. Ein Beispiel: Anfang des Jahres – nach den Anschlägen auf die Charlie-Hebdo-Redaktion – fragte er in einem Artikel, woher der „Haß in Europa“ komme? Er beginnt mit einer Kurzanalyse des Films „La Haine“ von Mathieu Kassovitz, ein Film über das Leben ziemlich chancenloser Jugendlicher  einer Pariser Banlieue, ein Thema, das zwanzig Jahre nach Entstehen des Films Gegenstand von Dokumentationen und Vorabendserien geworden ist. Vom „Haß“ kommt er auf „Wut“, und beides scheint bei Kaube so etwas wie ein Virus zu sein, das Leute befällt. Vom Filmrezensenten wandelt er sich zum antiautoritären Herbergsvater, der gönnerhaft jedem das „Recht auf Dummheit und Geschmacklosigkeit“ erteilt, jedem, der „wütend ist“, zubilligt, das „ausdrücken zu dürfen, auch jenseits der Grenzen des Anstands“.

Über das Wort „Wutbürger“ wiederum kommt Kaube zur Erkenntnis, daß die Gesellschaft „in puncto Aufklärung“ wieder dort anfangen müßte, wo sie vor 150 Jahren schon einmal war. Was die Motive für den Haß sind (im Film hat er einen sehr konkreten Grund: ein Polizist erschießt einen Jugendlichen), vergißt er, bewußtzumachen.

Fragen nach Ursachen stellen statt Ängste schüren 

Man muß den Artikel dreimal lesen, um die Sophismen darin zu erkennen. Wer so formuliert, darf in diesem Fall nicht ernst genommen werden, da er der Verantwortung des Herausgebers einer seriösen Zeitung nicht gerecht wird. Ein Artikel zum Thema Haß ist keine Predigt, sondern sollte unangenehme Fragen nach konkreten Ursachen stellen, statt diffuse Ängste zu schüren.

Jemand, der zur Reflexionselite gehört, muß reflektieren, was er wie formuliert. Einen Anders Breivik zur Verkörperung des „Bösen“ zu stilisieren, so Kaube in einem anderen Artikel, ist zuviel der Ehre für einen Verbrecher mit falscher Sicht auf die menschliche Gesellschaft. Und ein Akif Pirinçci leidet nicht unbedingt unter „zwanghafter Obszönität“, wenn er es geschmacklos findet, daß Rosa von Praunheim während einer Talkshow ein mit Sperma gefülltes Kondom auf den Tisch legt und alle brav applaudieren.

„Wut jenseits der Grenzen des Anstands“ – ist das heideggersche Unbegrifflichkeit oder mutlose Pseudoliberalität, wo Verantwortlichkeit gefordert ist? Man – Jürgen Kaube macht es regelmäßig – kann keine Reform des Hochschulsystems mit ihren „blinden Wachstumsimperativen“ und gleichzeitig blindlings das „Recht auf Dummheit und Geschmacklosigkeit“ fordern. Das auszuschließen, wäre die – preiswürdige – publizistische Aufgabe eines demokratischen Intellekts und hieße, „wissenschaftliche“ – Wissen schaffende – „Kultur in den öffentlichen Raum“ zu übersetzen. Mit Mut und Eindeutigkeit im Dienst von Wahrheiten. Vielleicht hätte Ludwig Börne „politisches Feuilleton“ so definiert.

Foto: Jürgen Kaube, aufgenommen im März 2014 auf der Leipziger Buchmesse: Nicht wirklich originell