© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/15 / 03. Juli 2015

Wie aus einer Ritterschule eine Diplomfabrik wurde
Die vor 50 Jahren gegründete Ruhr-Universität Bochum begann zunächst im Geiste Humboldts
Dirk Glaser

Zwischen dem 18. Juli 1961, als sich der nordrhein-westfälische Landtag entschied, in Bochum eine Universität zu errichten und der feierlichen Eröffnung des ersten Hochhausblocks, am 30. Juni 1965, vergingen kaum vier Jahre. Für jene fernen Zeiten, als Großprojekte noch zügig und pünktlich realisiert wurden, ist das nicht weiter bemerkenswert. Politisch gesehen kam die Universität, die, wie von der christlich-liberalen Landesregierung geplant, zum Wintersemester 1965/66 ihren Vorlesungsbetrieb aufnahm, trotzdem zu spät.

Der Kirchenrechtler Paul Mikat, CDU-Kultusminister in Düsseldorf seit 1962, der eigentliche „Architekt“ der Bochumer Ruhr-Universität, hatte stets aufs Tempo gedrückt, um diese erste große Hochschulgründung in der jungen Bundesrepublik rechtzeitig vor dem Ende der Legislaturperiode abzuschließen, damit diese Leistung der CDU/FDP-Regierung bei den 1966 anstehenden Wahlen honoriert würde.

Eine Rechnung, die, wie der SPD-Wahlsieg dann zeigte, nicht aufging, weil Bochum, das im ersten Semester gerade einmal 1.200 Studenten aufwies, noch keinen bildungspolitischen Gewinn abwarf. Das lag nicht allein am sich hinziehenden weiteren Ausbau, der erst 1975 ein Ende fand, als schon 21.000 Studierende den von Beton und Glas geprägten Campus im Südosten der einstigen Revierstadt bevölkerten. Sondern daran, daß Bochum in der zeitgenössischen Wahrnehmung nicht, obwohl dies im Rückblick auf „1968“ gern so gesehen wird, für die „Reform“ der Ordinarienuniversität stand. Eine Rolle, die erst dem 1969 eröffneten Bielefeld und dem gleichaltrigen Konstanz zufiel, bevor dann bis 1975 an zwei Dutzend weiteren Gründungen und an den von Mikats späterem Nachfolger Johannes Rau (SPD) konzipierten „Gesamt-Hochschulen“ Studenten wie Dozenten Gesellschaftsreform zum Bildungsauftrag ausriefen.

Lauter Geistesverwandte der „Schule von Münster“

In Bochum sorgte seit 1961 ein „beratender Gründungsausschuß“ dafür, den Anschluß an die Humboldt-Tradition zu garantieren. Dessen Vorsitzender hieß Hans Wenke, ein Hamburger Pädagogik-Professor und treuer Schüler Eduard Sprangers, bis 1945 an der Berliner Universität Wahrer des Humboldtschen Erbes. Auch die übrigen Mitglieder verliehen dem Ausschuß ein liberalkonservatives, bald als provokant empfundenes „bürgerliches“ Profil. 

Zu erwähnen ist vor allem Joachim Ritter, der „Erneuerer der praktischen Philosophie in Deutschland“ (Hermann Lübbe), dessen Münsteraner „Schule“ Ideenhistorikern der Bonner Republik als stärkstes Widerlager zu den „Frankfurtern“ um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gilt. Ritter nutzte denn auch seinen Einfluß, um in der Bochumer Dependance Zöglinge und Geistesverwandte der „Schule von Münster“ unterzubringen. In der ersten Berufungskohorte zunächst Hermann Lübbe und Hans Blumenberg, dann Karlfried Gründer, der 1970 Lübbe nachfolgte. Auch der Neuhistoriker Rudolf Vierhaus kam aus Münster. Namen, die auf Ritters legendäres Collegium Philosophicum, auf Carl Schmitt, dessen gelegentlichen Gast, oder den Münsteraner Soziologen Helmut Schelsky zurückweisen, finden sich in den Bochumer Vorlesungsverzeichnissen bis 1970 entsprechend häufig: Helmut Quaritsch, Roman Schnur, Bernard Willms, Johannes Papalekas, Hanno Kesting oder Reinhart Koselleck.

Mit dieser Zusammensetzung des Lehrkörpers manifestierte sich auch berufungspolitisch das „Reformdesinteresse“ des Gründungsausschusses, von dessen Kurs dann die erste Ordinariengeneration kaum abwich. Man übernahm anscheinend bewährte Studien- und Examensordnungen, sperrte sich gegen die von konservativen Professoren wie progressiven Studenten zunächst in seltener Einigkeit als „Verschulung“ geschmähte Gliederung in Grund- und Hauptstudium und wollte von paritätischer Mitbestimmung in den Selbstverwaltungsgremien noch 1969 nichts wissen, als ausgerechnet der Rektor Kurt Biedenkopf, ein CDU-Mann, „basisdemokratische“ Forderungen der Studenten und Assistenten in der neuen Universitätsverfassung verankerte. 

Nun erst, befeuert von der Studentenrebellion, die ihre Aktionszentren, neben der FU Berlin, eher in älteren Hochschulen wie Heidelberg, Marburg oder Frankfurt hatte, vollzog sich der Umbau von der Ordinarien- zur „Gruppenuniversität“, die, wie der Kölner Finanzwissenschaftler Günter Schmölders in seinen Erinnerungen beklagt, politisches Gezänk als demokratische Willensbildung deklarierte. Diese Variante von Willy Brandts Parole „Mehr Demokratie wagen!“ habe, so Schmölders, letztlich die gewachsene Struktur der deutschen Universität wirklich „zerstört“.

In Bochum, so resümiert Hans Stallmann in seiner Darstellung der „euphorischen Jahre“ des Aufbaus (Gründung und Aufbau der Ruhr-Universität Bochum, Essen 2002), fiel jedoch die Studentenrevolte viel weniger radikal aus als an den meisten anderen Universitäten. Das habe nicht nur an der konservativen Professorenschaft gelegen, sondern erkläre sich aus dem Umfeld. 

Keinen Raum für „revolutionäre Aktivitäten“ 

Für „revolutionäre Aktivitäten“ habe es im wahrsten Sinne keinen Raum gegeben, da die meisten Studentenheime, woanders Orte „nächtelanger Diskussionen“, 1968 noch im Bau waren. Zudem bestand die Hälfte der Studentenschaft aus Fahrschülern, die bei ihren Eltern wohnten. Und daheim, inmitten der zu Disziplin und Pragmatismus neigenden Ruhrgebietsbevölkerung, stießen die 68er-Ideale auf „totales Unverständnis“: „Anstatt zu streiken und zu protestieren, sollten die jungen Leute lieber hart arbeiten, um in der sozialen Pyramide aufzusteigen und es einmal besser zu haben als die Elterngeneration.“

Einen, wenn auch von den Gründervätern nicht beabsichtigten Reformschub hat die so traditionell konzipierte Ruhr-Universität nach Stallmanns Ansicht dennoch ausgelöst. Für junge Frauen und Mädchen aus strukturell konservativen Arbeiterfamilien eröffneten sich durch die Hochschule neue Möglichkeiten, zu höherer Bildung und damit zu mehr Eigenständigkeit zu gelangen. Deshalb könne man in der Bochumer Neugründung das „wichtigste Instrument der Frauenemanzipation im Ruhrgebiet“ sehen.

Foto: Studenten vor der Ruhr-Universität in Bochum 2012: „Wichtigstes Instrument der Frauenemanzipation im Ruhrgebiet“