© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/15 / 03. Juli 2015

Pankraz,
Ch. Gellert und die kluge Betschwester

Heinz Ludwig Arnold, der langjährige Herausgeber von Kindlers Literaturlexikon, nannte ihn einmal, teils sanft höhnisch, teils fast liebevoll-zärtlich, „die Mutter Theresa der Aufklärung“: Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), dessen dreihundertster Geburtstag am 4. Juli  zumindest in seiner Heimatstadt Hainichen am sächsischen Fuß des Erzgebirges ausgiebig gefeiert wird. Die Titulierung als aufklärerische Mutter Theresa taugt tatsächlich recht gut zur Kennzeichnung des Dichters und Theologen, sieht man von dem katholischen Beiklang ab. „Betschwester der Aufklärung“ würde die Sache noch besser treffen.

Eine seiner bekanntesten, seinerzeit viel gespielten Komödien heißt denn auch „Die Betschwester“ (uraufgeführt 1743 in Leipzig) und handelt von einer überaus lebenskundigen, mit für damalige Verhältnisse „modernem“ Wissen geradezu vollgestopften Jungfer, die sich mit Leidenschaft der Krankenpflege und Nächstenhilfe verschrieben hat, als wirklich durchschlagende Therapie aber letztlich nur das Gebet, die innige Anrufung Gottes, anzubieten hat, was zu mancherlei rührselig-komischen Verwicklungen führt.

Gellert ist aber weit davon entfernt, seine Betschwester frontal dem Gelächter des Publikums preiszugeben, sondern im Gegenteil: er zeigt, daß die so kluge Schwester im Grunde recht hat, weil die Ehre menschlichen Gelingens nicht uns selbst gehöre, sondern stets einer höheren, unbegreiflichen Kraft, gemäß dem berühmtesten Vers, den Gellert geschrieben hat und der noch heute in den Kirchen gesungen wird: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, / Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort. / Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere. / Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort!“


Der Verfasser dieses Verses entstammte einem evangelischen Pfarrhaus, und genau dieser Umstand mag dazu beigetragen haben, daß er schnell in die erste Reihe der deutschen Geistesheroen aufstieg. Das deutsche Pfarrhaus war damals eine Genieschmiede par excellence, und der in ihm waltende Geist des Pietismus, jener äußerst wirkmächtigen Mischung aus konkretem Weltinteresse und echter Herzensfrömmigkeit, erwies sich als echter „Trendsetter“, wie wir heute sagen würden.

Weder mit dem streng-formelhaften französischen Rationalismus noch mit dem bieder-praktischen englischen Empirismus mochte man sich damals in Deutschland mehr abfinden. Die Vernunft, so sah man, erschöpfte sich weder in mathematischen Axiomen noch in simplen Sinnesdaten. „Es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist“, hatte der britische Empirist John Locke im 17. Jahrhundert dekretiert. Aber schon Leibniz in Hannover hatte dem hinzugefügt: „... außer der Verstand selbst“.

Der junge Christian Fürchtegott Gellert nun, der früh an der Universität Leipzig Theologie und „Moral“ zu lehren begann, fügte seinerseits hinzu: Der Verstand ist zwar „innen“, doch er ist nicht nur Logik, sondern ebenso auch Gefühl, nicht nur Hirn, sondern auch Herz. Erst die feste, unverbrüchliche Union von Herz und Verstand ist das, was wir „Vernunft“ nennen – und die Vernunft wird niemals blindlings triumphieren, sondern stets um ihre Grenzen wissen angesichts des Ewigen, den alle Himmel rühmen. Als Vernünftige sind wir alle Betschwestern, ob arm oder reich. Es kommt darauf an, zu beten und klug zu sein.

Obwohl Gellert die Lizenz zum Kirchenprediger besaß, ist er nie als solcher aufgetreten. Seine Kollegen sagten, er sei zu „schüchtern“ dazu. Wahrscheinlicher ist, daß er dem Predigen prinzipiell mißtraute. Entweder man lehrt die Leute etwas, wird seine Überzeugung gewesen sein, oder man stellt ihnen die Pracht und Macht der göttlichen Schöpfung in Gesängen und Erzählungen vor, damit sie etwas zum Anbeten haben. Entweder man ist strenger Wissenschaftler – oder man ist Poet. aber um Himmels willen kein allzu exorbitanter, weil sie dich dann nur beneiden oder gar hassen, ihre Seelen vor dir verschließen würden.


Es gibt ein Gedicht in Gellerts Band „Geistliche Oden und Lieder“, „Der Tanzbär“, in dem das Dilemma ausdrücklich thematisiert wird. Der Tanzbär spricht: „Sei nicht geschickt, man wird dich wenig hassen, /Weil dir dann jeder ähnlich ist; / Doch je geschickter du vor vielen andern bist, / Je mehr nimm dich in acht (…) Wahr ist’s, man wird auf kurze Zeit / Von deinen Künsten rühmlich sprechen; / Doch traue nicht, bald folgt der Neid / Und macht aus der Geschicklichkeit / Ein unvergebliches Verbrechen.“

Genauso ist es mit Gellert selbst gekommen. Er wurde  Poet und hatte mit seinen Liedern, Fabeln und „empfindsamen“ Komödien zunächst gewaltigen Erfolg, war um 1755 der meistgelesene und meistzitierte Autor des Heiligen Römischen Reiches. Der junge Goethe hörte als Leipziger Student bei ihm Vorlesungen über Moral und lobte sie in den höchsten Tönen. Leopold Mozart kam mit Wolfgang und Nannerl extra zu Besuch, und die Kinder saßen bei ihm auf dem Schoß. Joseph Haydn vertonte, nicht ohne persönliche Anspielungen, das an sich Gott gewidmete Lied „Du bist’s, dem Ruhm und Ehre gebühret“.

Doch der Ruhm war von kurzer Dauer. Es kam Lessing und nahm ihm den Ruf als größter deutscher Fabeldichter weg. Klopstock raubte Gellert den Ruhm als größter deutscher Odendichter. Die Autoren des Sturm und Drang verspotteten ihn als „moralinsauren Dichter für Landpastorentöchter“ (Jakob Mauvillon“). 

Heute ist Christian Fürchtegott Gellert den Literaturlexika gerade noch einen knappen, lustlosen Eintrag wert – während seinem Bruder Christlieb Ehregott Gellert (1713–1795), dem im 18. Jahrhundert hochgeachteten Mineralogen und Bergbauexperten, in der technischen Literatur nach wie vor umfangreiche, respektvolle Kapitel gewidmet werden. Immerhin, für Christian Fürchtegott rollt zur Zeit auf dem Marktplatz der gemeinsamen Heimatstadt Hainichen ein tagelanges „Barockfest“ ab.