© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Der Flaneur
Kino im Kopf, ihr gegenüber
Josef Gottfried

Er sieht aus wie eine 45 Jahre alte Mischung aus Sascha Hehn und dem jüngst in die ewigen Jagdgründe eingegangenen Pierre Brice. Schlank, braungebrannt, blaue Augen, die dunklen Haare gepflegt nach hinten frisiert mit wunderbar grauen Schläfen. Kurz: Anfang der Neunziger, als Roy Black noch lebte, wäre er der schönste Mann zwischen Bonn und Leverkusen gewesen.

Eine junge Frau, die aschblonden Haare zum nackenlangen Zopf gebunden, mit dunklem Mantel, großem, mehrfach um den Hals gewickeltem Schal und ohne Gelnägel steigt ein und drängt sich mit ihrem Rucksack an mir vorbei in die Straßenbahn. Sie möchte einen der letzten freien Sitzplätze ergattern und setzt sich dem schönen Mann gegenüber.

Die Aschblonde und Sascha-Pierre schauen auch herüber, dabei treffen sich ihre Blicke.

Als er sie riechen kann, schürzt er die Lippen. Und indem er nur die Augäpfel bewegt, mustert er sie von oben bis unten, länger, als übliche Schamgrenzen es erlaubten. Dann zieht er die Brauen so hoch, daß seine Stirn sich in Falten legt. Und dabei schaut er, wie ein Mann wohl schauen würde, wenn er eine Frau noch zappeln ließe, die ihn just in diesem Moment wollüstig um Liebe anbettelte.

Ihr Blick geht abwechselnd vom Smartphone zum Straßenbahnfenster und zurück. Auch nach der dritten Haltestelle, Ausstieg in Fahrtrichtung links, scheint sein Kopfkino sich unmittelbar auf seinen Gesichtsausdruck zu übertragen. Und die Frau tippt nur noch auf dem Handy herum, denn draußen ist es verdüstert, und im Fenster sieht sie das Spiegelbild des beleuchteten Innenraums. Dort fängt ein Kleinkind an zu schreien, Omis lächeln lieb zur Mutti hin, und die beugt sich in den Buggy, um das Menschlein zu beruhigen.

Die Aschblonde und Sascha-Pierre schauen auch herüber, dabei treffen sich ihre Blicke, und eines weiß er nun ganz gewiß: Auch sie wünscht sich ein Kind von ihm, dem Mann.

Versonnen lächelt er vor sich hin, deutet im inneren Monolog ein schmunzelndes Kopfschütteln an und schaut mit nun gnädigem Blick ins Fenster.