© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Knapp daneben
Ein Urteil, das hoffen läßt
Karl Heinzen

Die Sorge, daß das Internet die Menschen dazu verleiten könnte, ungefiltert zum Ausdruck zu bringen, was sie denken und auf dem Herzen haben, ist so alt wie das Weltnetz selbst. Alle Register wurden gezogen, damit die öffentliche Meinung trotz des Wildwuchses beherrschbar bleibt. Die Erfolge dieser Bemühungen um den Zusammenhalt und die Stabilität der Gesellschaft sind jedoch bescheiden. Niemand ist heute mehr vor Aufwieglern sicher, die an den traditionellen Medien vorbei Anhänger um sich scharen. Alle Populisten von Tsipras bis Wilders, von Farage bis Grillo, konnten, so unterschiedlich ihre Vorstellungen auch sind, nur populär werden, weil sie das Internet zu nutzen verstanden. Es ist daher kein Zufall, daß die Zahl gescheiterter Staaten weltweit wächst und wächst. Ohne das Internet und die auf ihm aufsitzenden Sozialen Medien wäre in Syrien, Ägypten, Libyen, Tunesien, der Ukraine und manch anderen Ländern alles beim alten und den Bürgern Blutvergießen und Unsicherheit erspart geblieben.

Es ist besser, wenn die Bürger ihre unmaßgebliche Privatmeinung nicht dauernd hinausposaunen können.

Jedoch könnte sich das Blatt wieder wenden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das estnische Nachrichtenportal Delfi dazu verurteilt, 320 Euro an eine Fährgesellschaft zu zahlen, weil sich diese durch unflätige Bemerkungen im Kommentar eines Lesers gekränkt fühlte. Auch die Beteuerung des Foren-Betreibers, er habe doch die anonymen Beleidigungen umgehend gelöscht, nachdem er auf sie hingewiesen worden war, konnten den Schuldspruch nicht abwenden.

Alle europäischen Staaten außer Weißrußland und dem Vatikan akzeptieren Urteile des Gerichtshofs als bindend. In ihnen wird es nun einfach sein, etwas gegen problematische Online-Medien und Weblogs zu tun. Man muß lediglich beleidigende Kommentare posten und die Betroffenen informieren, dann wird sich der Rest schon von selber regeln. Bevor den Betreibern der Seiten finanziell die Luft ausgeht, werden sie wahrscheinlich die Kommentarfunktion ausschalten. Damit wäre schon viel erreicht. Es ist besser für das öffentliche Wohl, wenn die Bürger ihre unmaßgebliche Privatmeinung nicht dauernd hinausposaunen können.