© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Von Winckelmann über Hölderlin schnurstracks zur Wehrmacht
Literaturwissenschaftliche „Sonderweg“-Phantasmen und der lange Schatten der Umerziehung: Deutsche Gräkomanie aus britischer Sicht
Wolfgang Müller

Es paßt zwar wie die Faust aufs Auge, aber mit „The Tyranny of Greece over Germany“ ist nicht ein Text überschrieben, der erzählt, wie sich deutsche Euroretter um Angela Merkel und Wolfgang Schäuble seit Monaten am Nasenring Athener Bankrotteure vorführen lassen.

Dieser für ein wissenschaftliches Buch ungewöhnlich reißerische Titel schmückt vielmehr den Einband einer vor achtzig Jahren veröffentlichten Ideengeschichte der Goethezeit aus der Feder der anglo-irischen Germanistin Eliza Marian („Elsie“) Butler (1885–1959). Wie viele Oberschichttöchter ihrer Generation – an Virginia Woolf und Vita Sackville-West ist zu denken – war Butler eine Exzentrikerin, okkultistisch, lesbisch, linksliberal, die sich überdies als militante Deutschenhasserin für das Studium der deutschen Literaturgeschichte entschied. Damit begann eine entbehrungsreiche Laufbahn, bis sie 1929 ein Lektorat für Deutsch in Cambridge erhielt, das sie endlich 1936 mit einer Germanistikprofessur in Manchester vertauschen konnte.

Deutsche seien anfällig für Utopien über Vollkommenes

Butlers wenig stringent argumentierende, polemische Arbeit setzt ein mit dem vermeintlichen Urheber deutscher Antikenbegeisterung, dem 1768 in Triest ermordeten Johann Joachim Winckelmann, dessen „Geschichte der Kunst des Alterthums“ (1764) eine normative Ästhetik entwickelt, die den Schöpfungen der Griechen den „Vorzug vor anderen Völkern“ zuspricht und sie als überzeitlichen Maßstab für jeden Künstler empfiehlt. Über Lessing und Herder, den Winckelmann-Verehrer Goethe, über Schiller, dessen „Die Götter Griechenlands“, und den im Irrsinn endenden „Märtyrer“ Hölderlin führt Butlers Rekonstruktion des deutschen Philhellenismus schließlich zu Nietzsche und dem „Mystagogen“ Stefan George. 

Die Hauptthese, mit deren Hilfe sie den Leser durch ihr Material zu lotsen versucht, klingt wie eine literaturhistorische Variante zum Klischee vom „deutschen Sonderweg“: Weil sich der auf Tragik gepolte deutsche Volkscharakter ohnehin nie mit den Mängeln und Unvollkommenheiten des Lebens abgefunden habe, sei er von jeher anfällig gewesen für den Zauber von Utopien, die versprachen, das Vollkommene sei machbar. Daher, so heißt es in der luziden, aber ganz auf „Umerziehung“ gestimmten Einführung des Herausgebers der nicht von ungefähr 1947 erschienenen deutschen Übersetzung, erkläre sich auch die starke Anziehungskraft, die totalitäre Versuchungen des 20. Jahrhunderts, marxistischer „Zukunftsstaat“ wie „Tausendjähriges Reich“, auf das Volk in der Mitte Europas ausübten. Vorbereitet worden sei dies von ihren Dichtern und Denkern seit 1750. Im antiken Griechenland hätten Winckelmann und seine Nachfolger ein Reich der „edlen Einfalt und stillen Größe“ imaginiert, aus dem sie alle Widrigkeiten der Realität des Daseins verbannten. Hier glaubten sie, sämtliche Bestandteile einer Welt idealer Vollkommenheit vorzufinden, derer ihre Phantasie bedurfte, um aus der zunehmend unerträglicheren „Entzweiung“ der modernen Zivilisation zu entkommen.

Kürzlich hat die Berliner Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders das hierzulande selbst in Fachkreisen kaum rezipierte Werk Butlers wiederentdeckt (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2015). Aber nicht, um die Fragwürdigkeit ihrer in der angelsächsischen „Hunnen“-Propaganda des Ersten Weltkrieges wurzelnden Schablonisierung des deutschen „Wesens“ einer ideologiekritischen Korrektur zu unterziehen. Obwohl dies leicht gewesen wäre, hätte Schmölders Walther Rehms „Griechentum und Goethezeit“ zu Rate gezogen, das 1936 Butlers Darstellung auf dem Fuße folgte und das die Geschichte der deutschen Gräkomanie nicht politisch instrumentalisiert. Allein Rehms Hinweis auf die ethisch-ästhetische Höherschätzung der Moderne bei Schiller und Humboldt genügte, um Elsie Butlers Mär vom Weimarer Glauben an den Vorrang antiker Vollkommenheit zu relativieren. 

Stattdessen ist Schmölders bemüht, deren „Sonderweg“-Irrtum mit Lesefrüchten aus den Werken veritabler Philhellenen wie Gerhart Hauptmann und Sigmund Freud zu aktualisieren. Bis die 1944 geborene Tochter des berühmten Nationalökonomen Günter Schmölders, sich offenkundig als „Tätertochter“ fühlende, enthemmt assoziierende Autorin bei den „deutschen Offizieren mit humanistischer Bildung“ anlangt, die 1941 in Griechenland einmarschierten und dort „unter dem Bann hellenistischer Selbstverkennung“ ihre „Exzesse“ verübten. Ideengeschichte leicht gemacht!