© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Sprüche aus dem Poesiealbum
Einwanderung: Die USA taugen nicht als Vorbild für die Aufnahme von Flüchtlingen
Richard Stoltz

Man sollte die transatlantischen Freundschaftsbezeugungen (man kann auch grob sagen:  Einschleimereien) nicht übertreiben. Der Chefkommentator Torsten Krauel von der Berliner Welt hat das jüngst getan, als er seine deutschen Leser dazu aufforderte, mehr afrikanische und nahöstliche Flüchtlinge aufzunehmen, und als großes Vorbild dafür ausgerechnet die USA pries.

Die USA seien, schrieb Krauel, für viele verfolgte, hungernde und freiheitsliebende Europäer eine wahre „Fluchtburg“ gewesen. Amerika sei durch die Einwanderer „stark geworden. Nun ist Europa an der Reihe, sich als Hort der Hoffnung und Freiheit zu bewähren.“ Ein einziger Blick auf die reale Geschichte genügt, um diese Sprüche aus dem politischen Poesiealbum total zu blamieren. 

Die USA waren, bevor sie Einwanderungsland werden konnten, zunächst einmal genuines Einwandererland. Das heißt, die Ur-Einwohner, die Indianer, wurden ausgerottet oder in „Schutzgebieten“ konzentriert, damit die Einwanderer Platz und Spielraum gewinnen konnten. Und ein nicht geringer Teil der „Einwanderer“, nämlich die Schwarzen, kam gar nicht per Einwanderung, sondern es waren Sklaven, die man irgendwelchen afrikanischen Häuptlingen abgekauft hatte, um die neuen riesigen Baumwollplantagen optimal verwerten zu können.

Heute tobt an der Grenze zu Mexiko ein mörderischer Abwehrkampf gegen illegale Einwanderer aus Lateinamerika, verglichen mit dem sich die Bemühungen der deutschen Behörden um geordnete, wenn auch viel zu lange dauernde Asylverfahren wie harmlose Sandkastenspiele ausnehmen. Und auch eventuelle Zuwanderer aus dem alten Europa sehen sich in den USA strengsten Überprüfungen ausgesetzt. Sie müssen vorab qualifizierte Befähigungszertifikate vorlegen und einen Eid auf die Verfassung leisten.

Angesichts all dieser Fakten wirkt der Text des Welt-Chefkommentators geradezu zynisch. Es ist aber wohl nur Beflissenheit gegenüber seinen Auftraggebern.