© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Mit dem Säbel rasseln
Rußland und die Nato: Im aktuellen Konflikt rücken nun Nuklearwaffen in den Fokus
Hans Brandlberger

Als ein militärisches Disneyland karikierten amerikanische Medien die Rüstungsmesse „Armija 2015“, auf der Rußland vor wenigen Tagen unweit von Moskau seine wehrtechnische Spitzentechnologie präsentierte. Wladimir Putin schien sich aber nicht damit begnügen zu wollen, in martialischem Ambiente Exportkunden zu umgarnen. Er nutzte die Veranstaltung vielmehr dazu, den Propagandakrieg mit dem Westen weiter eskalieren zu lassen. 40 neue ballistische Interkontinentalraketen, so die vollmundige Ankündigung des Präsidenten, wolle Rußland noch in diesem Jahr in sein Arsenal einreihen. Ihre Technologie sei so modern, daß alle bekannten Raketenschirme wirkungslos blieben.

Im Westen ist die Steilvorlage Putins dankbar aufgegriffen worden. Moskau spiele in unverantwortlicher Weise mit dem Feuer, war der einhellige Tenor der Stellungnahmen aus der Nato. Anstatt sich konstruktiv um eine Lösung der Ukraine-Krise zu bemühen, werde der Konflikt durch nukleares Säbelrasseln verschärft.

Das russische Dementi, gar keine Aufrüstung auf dem Gebiet der strategischen Atomwaffen betreiben zu wollen, ging in der Woge der Empörung unter. Lediglich sicherheitspolitische Experten wiesen im Westen weitgehend unbeachtet darauf hin, daß den 40 neuen Raketen voraussichtlich 60 alte gegenüberstünden, die in diesem Jahr außer Dienst gestellt würden, es unter dem Strich somit zu einer weiteren Abrüstung komme. Damit bliebe auch 2015 im Trend, den das renommierte Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) für die Vorjahre konstatierte: Die Zahl der Nuklearwaffen nimmt weltweit ab, allerdings weichen veraltete Systeme leistungsfähigeren neuen, so daß trotz Verkleinerung der Bestände das Bedrohungspotential wächst. 

Sorgen bereiten den Friedensforschern derzeit aber weniger Amerika und Rußland, die ihre Verpflichtungen aus dem 2010 geschlossenen New-START-Vertrag trotz der Krise nicht in Frage zu stellen scheinen. Als Risiko machen sie eher die massiven Investitionen aus, die China und die südasiatischen Kontrahenten Indien und Pakistan in ihre Nuklearwaffenprogramme vornehmen.

Moskau und Washington verhehlen nicht, daß sie eine Modernisierung ihrer see-, land- und luftgestützten strategischen Atomarsenale betreiben, um weiter die „Triade der Abschreckung“ zu gewährleisten. Die Programme werden sich bis weit in das nächste Jahrzehnt hinziehen. Ein neuerliches Wettrüsten ist auf diesem Gebiet aber nicht zu erwarten, da es für beide Seiten weder politisch nutzbringend noch finanzierbar wäre.

Anders sieht es unterhalb der strategischen Ebene aus. Die Vereinigten Staaten werfen Rußland unterdessen nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand vor, den 1987 geschlossenen INF-Vertrag zu verletzen, der landgestützte Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von über 500 Kilometern verbot. Es soll Hinweise darauf geben, daß Moskau Systeme erprobt, die aus dem Rahmen des Erlaubten fallen. Auch wenn derzeit noch keine Beweise vorliegen, würde es nicht überraschen, wenn die Behauptungen einen wahren Kern hätten. 

Der unverändert gültigen Logik des Nato-Doppelbeschlusses von 1979 folgend, droht Washington nun damit, im Gegenzug landgestützte Marschflugkörper in Europa zu stationieren. Rußland wiederum sieht in der geplanten Stationierung von amerikanischen Raketenabwehrsystemen in Rumänien und Polen einen Verstoß gegen das INF-Abkommen, da diese über Fähigkeiten verfügten, die nicht zulässig seien. Der Disput ist so weit fortgeschritten, daß der einstige Meilenstein zur Überwindung des Ost-West-Konfliktes zur Disposition steht. Sollte der INF-Vertrag de facto unterlaufen oder gar formell aufgekündigt werden, steht ein neues Wettrüsten in diesem Segment nuklearer Waffensysteme ins Haus.

Eher harmlos erscheinen vor diesem Hintergrund die jüngsten Muskelspiele, mit denen die Nato ihre konventionelle Verteidigungsbereitschaft demonstrieren wollte. Sowohl der Ankündigung, die Ausrüstung einer amerikanischen Panzerbrigade in Osteuropa einzulagern, als auch dem Manöver „Noble Jump“, in dem 2.100 Soldaten aus neun Staaten auf dem heute polnischen Truppenübungsplatz Sagan vorführten, was die neue schnelle Eingreiftruppe des Bündnisses zu leisten vermag, läßt sich ein primär defensiver Charakter kaum absprechen. 

Auch unter dieser Ausrichtung sind die Möglichkeiten der Nato aber begrenzt. Sie dürfte in der Lage sein, einem Mitglied erfolgreich beizustehen, sollte es in einen „hybriden“ Konflikt mit irregulären, sich mehr oder weniger offen an Rußland anlehnenden Streitkräften verwickelt werden, wie ihn die Ukraine derzeit im Osten des Landes durchzustehen hat. Dieser Gefahr sind insbesondere die baltischen Staaten ausgesetzt. Sie müssen befürchten, daß Moskau das Wagnis eingehen könnte, die starke russische Minderheit zur Destabilisierung zu instrumentalisieren. Einem solchen Spuk könnte die Nato mit ihrer Speerspitze rasch ein Ende bereiten. Zu einem „klassischen“ konventionellen Krieg aber fehlt es ihr an Personal, Ausrüstung, Finanzmitteln und Bündnissolidarität. Allerdings darf sie darauf bauen, daß auch Rußland einen solchen scheuen wird. 

Die Nato kann daher eine Haltelinie markieren, aber nicht die jenseits derselben angesiedelte Ukraine-Krise lösen. Diese entwickelt sich zu einem „frozen conflict“, wie er bereits auf den entlegenen Schauplätzen Georgien, Berg-Karabach und Transnistrien zur Gewohnheit geworden ist. Einen neuen Kalten Krieg muß niemand mehr herbeireden. Er ist bereits in vollem Gange.