© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Nachtrag zu Münkler-Watch: Natürlich geht es nicht um die Meinungen, die Münkler tatsächlich oder möglicherweise zu den von ihm behandelten Themen oder Autoren hat, sondern um die Tatsache, daß er deren Vorhandensein zur Kenntnis bringt. Das erinnert an eine schon zwei Jahrzehnte zurückliegende Erfahrung. Damals las ich den Aufsatz eines befreundeten Dozenten Korrektur und war leicht irritiert, daß in seinen Anmerkungen bestimmte Titel fehlten. Ich wies ihn auf die Lücken hin, und er antwortete mir: „Heute ist es schon gefährlich, wenn man durchblicken läßt, daß man von der Existenz solcher Leute und solcher Texte weiß.“

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Zu den erfreulichsten Aspekten der Erinnerung an die Schlacht bei Waterloo gehört die Würdigung des Anteils, den die Niedersachsen am Sieg über Napoleon hatten. Das ist ganz wesentlich der Arbeit des britischen Historikers Brendan Simms über die heldenhafte Verteidigung des Gehöfts La Haye Sainte durch die Deutsche Legion des britischen Königs zu verdanken. Simms weist aber auch darauf hin, daß schon zu Beginn des Kampfes etwa fünfundvierzig Prozent der Männer Wellingtons Deutsche im weitesten Sinn des Wortes waren, und an deren Ende – nach der Ankunft Blüchers und der preußischen Truppen – stellten sie ganz eindeutig die Mehrheit: „In dieser Hinsicht war Waterloo in der Tat ein ‘deutscher Sieg’.“

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Noch absurder als das Hauen und Stechen in der AfD-Führung ist der Gerichtsprozeß, mit dem der Gründer und Ehrenvorsitzende des Front National, Jean-Marie Le Pen, gegen seine Tochter und von ihm installierte Nachfolgerin Marine Le Pen vorgeht, um sie zur Rücknahme der Disziplinarmaßnahmen zu zwingen, die sie über ihn verhängt hat.

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Die historischen Jubiläen kleinerer Staaten werden von ihren größeren Nachbarn immer mit einer gewissen Ignoranz behandelt, so auch der 500. Jahrestag der Schlacht bei Marignano. Die Niederlage der Eidgenossen im Kampf gegen Frankreich und Mailand wurde traditionell als Geburtsstunde der schweizerischen Neutralität begriffen. Eine Vorstellung, die sich in der Gegenwart allen möglichen Dekonstruktionsbemühungen ausgesetzt sieht. Dagegen hat Paul Widmer, der die Diplomatie seines Landes von innen kennt, protestiert und gewarnt, „nur alte Mythen durch neue“ zu ersetzen. In der Sache kann man Widmer zustimmen, aber was die Mythen als äußerst verdichtete Bilder der Vergangenheit betrifft, geht es gar nicht anders: Selbstverständlich werden dauernd die einen Mythen gegen andere ausgetauscht. Aufklärung war und ist und bleibt etwas für wenige.

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Der Umbau des Front National nimmt Fahrt auf: Sébastien Chenu, einer der Mitbegründer von GayLib und militanter Befürworter der „Ehe für alle“, ist zum Leiter des „Collectif culture, création et liberté“ ernannt worden, der den Einfluß des FN auf Künstler und Journalisten ausweiten soll. Wie man hört, ist Alain Delon pikiert, daß man ihn übergangen hat.

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Bildungsbericht in loser Folge LXXVI: Die neuerdings populäre Forderung nach „Benimm-Unterricht“ in den Schulen verkennt die Lage und die denkbaren Handlungsoptionen. Der Verfall der Manieren hat längst die ganze Gesellschaft ergriffen, was bedeutet, daß man auch bei Lehrern keineswegs Verhaltenssicherheit voraussetzen kann. Es genügt im übrigen nicht, ein besseres Betragen in irgendwelchen Reservaten zu fördern, wenn Kinder und Jugendliche dauernd direkt und indirekt ein schlechteres vorgeführt bekommen, das sie schon wegen seiner Häufigkeit als normativ ansehen. Zuletzt ist noch auf das Fehlen der Sanktionsmöglichkeiten hinzuweisen. Heute kann sich höchstens noch ein bis ins höhere Alter lausbubenhaft wirkender, katholischer Showmaster mit Wohnsitz in Kalifornien erlauben, über die heilsame Wirkung von Ohrfeigen etwas lauter nachzudenken.

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Ein neues Verfahren, das es möglich macht, mit Hilfe von „Psyware“ Sprachanalysen zu erstellen, die nicht nur Aufschluß über die Befindlichkeit eines Menschen geben, sondern auch dessen Wesenszüge und Motivlagen entschlüsseln, mag wie Science-fiction erscheinen, dürfte aber bald Wirklichkeit werden und uns damit konfrontieren, wieviel Zeit vergangen ist, seitdem zum erstenmal über „Sachzwänge“ nachgedacht wurde und wie folgenlos dieses Nachdenken geblieben ist.

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Jede Institution muß den Anschein wahren. Gravierende Probleme entstehen erst, wenn die Energien ausschließlich auf dieses Ziel gerichtet werden und die notwendige Diskrepanz von Schein und Sein vollständig schwindet.

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Auf die perennierende Griechenland-Schulden-Krise trifft das Diktum Gerd-Klaus Kaltenbrunners zu: der Mensch sei ein „Entscheidungsflüchter“.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 3. Juli in der JF-Ausgabe 28/15.