© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

200 Jahre Belle-Alliance/Waterloo – „Die Garde stirbt, sie ergibt sich nicht“
Das letzte Karree
Karlheinz Weißmann

In der belgischen Nationalstraße 5, der Chaussee de Charleroi, steht – etwa zurückgesetzt – das Denkmal „L’Aigle blessé" – „Der verwundete Adler": in Bronze der Greifvogel, mit durchschossenem Flügel, die gefallene Fahne des Kaiserreichs trotzdem fest umklammernd, den Kopf kampfbereit gereckt. Man sieht von dort aus, ein paar hundert Meter entfernt, das wesentlich größere Monument, das die Sieger der Schlacht von Waterloo gesetzt haben: den „Löwenhügel", auf dem sich das britische Wappentier triumphierend erhebt. „Der verwundete Adler", bescheiden in seinen Abmessungen, erinnert dagegen an den Besiegten, Napoleon, und an das „letzte Karree" seiner Garde.

Am Abend des 18. Juni 1815 mußten vier französische Bataillone unter feindlichem Artilleriebeschuß auf Belle-Alliance abziehen, rückwärts marschierend, ununterbrochen feuernd, die Verwundeten, die noch aufrecht standen, in ihrer Mitte. Schließlich blieben kaum mehr als hundert Soldaten übrig, vor allem im Dienst ergraute Grenadiere, hinter einem Wall von Toten zusammengedrängt und immer noch jede Lücke schließend, wenn ein Mann fiel. Dann fuhren die Engländer eine reitende Batterie auf. Aber einer der Offiziere hinderte den Kanonier, die Lunte an das Zündloch zu halten und rief: „Tapfere Garden, ergebt euch! Ihr seid verloren, ergebt euch endlich!" – „La garde meurt, elle ne se rend pas" – „Die Garde stirbt, sie ergibt sich nicht", waren die oft zitierten Worte, die General Cambronne dem Feind entgegenschleuderte. Daraufhin eröffneten die Geschütze das Feuer. Eine Kartätschenladung tötete fast alle Franzosen, Cambronne brach schwer verwundet zusammen.

Das Aushalten in verzweifelter Lage, die Bereitschaft, den Kampf auch dann fortzusetzen, wenn weder Sieg noch Überleben zu erwarten sind, hat oft Bewunderung geweckt. Das Heldentum der wenigen, die den vielen widerstehen, wird durch die sichere Niederlage gerade nicht verdunkelt, und was auch immer den Ausschlag gibt – Ehrgefühl, Korpsgeist, Vaterlandsliebe –, es muß eine mächtige Empfindung sein, die Aufgabe oder Unterwerfung ausschließt und dazu bringt, „auf verlorenem Posten" weiterzufechten.

Das Urbild dieses Kampfes ist die Schlacht an den Thermopylen, im Grunde nur eine Episode des zweiten Perserkrieges, als griechische Truppen, im Kern dreihundert Spartiaten unter ihrem König Leonidas, eine Enge gegen den Vormarsch des Feindes sperrten, um den Abzug ihrer Verbündeten aus den übrigen Poleis zu decken. Ihre Tat wurde schon in der Antike als Akt verstanden, der den „heiligen Gesetzen des Vaterlandes" (Cicero) entsprach. Etwas, das es nach Jahrhunderten des Vergessens möglich machte, dieses Muster wiederzuentdecken. Die Ikonographie der Französischen Revolution war nicht nur durch das republikanische Pathos Roms, sondern auch durch das Ideal Spartas geprägt, und natürlich hat man „das letzte Karree" bei Waterloo mit den Männern des Leonidas verglichen.

Die Entscheidung eines Offiziers wie Gottfried von Bismarck, noch Anfang 1943 in den Kessel von Stalingrad zurückzukehren, „wie das Gesetz es befahl", ist mit der Wirkung von Propaganda nicht zu erklären und war ohne Zweifel in einem älteren Ethos verankert.

Die Bezugnahme auf die Thermopylen war aber nie auf Frankreich beschränkt, sie spielte auch eine Rolle für die Vorstellungswelt derer, die in Deutschland das Hellenentum erneuern wollten. Schillers Fassung der von Herodot überlieferten Grabinschrift für die Spartiaten – „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl" – war selbstverständliches Bildungsgut. Herder sprach vom „Grundsatz der höchsten politischen Tugend", dem hier genüge getan wurde, der Kampf an den Thermopylen diente als Gegenstand der Schulbücher und in der militärischen Erziehung als wichtiges moralisches Beispiel. Die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten wurden beim Totengedenken mit den Männern des Leonidas in Beziehung gebracht. Auch dieser Vorstellung bediente sich die NS-Propaganda, ohne daß damit die bleibende Macht des Motivs erklärt wäre; die Entscheidung eines Offiziers wie Gottfried von Bismarck, noch Anfang 1943 in den Kessel von Stalingrad zurückzukehren, „wie das Gesetz es befahl", war ohne Zweifel in einem älteren Ethos verankert.

Nach 1945 sind solche Bezugnahmen in Deutschland genauso in Mißkredit geraten wie die auf den Endkampf der Burgunden oder der Ostgoten am Fuß des Vesuvs; Bilder, von denen man gemeint hatte, daß sie zum unaufgebbaren Bestand der Volksseele gehörten. Und bezeichnenderweise ist der neue Kult um die Spartiaten und Leonidas nur auf einem Umweg – über den amerikanischen Spielfilm „300" – zurückgekehrt, dem eine politische Bewegung wie die Identitären Handlungsmotiv und Symbol entnommen hat.

Man muß in den Tabuierungen auch einen Aspekt der großen ideologischen Kräfteverschiebung sehen, der es einerseits unmöglich macht, die Kadetten zu feiern, die den Alcazar von Toledo verteidigten (1936), während andererseits die Soldaten und Zivilisten, die während der Blockade von Leningrad (1941–1944) aushielten, als Helden gelten. Aber es geht doch in erster Linie um einen Kontrast zwischen den Formen kollektiver Erinnerung in verschiedenen Nationen.

Zwar vereidigt die israelische Armee ihre Rekruten nicht mehr im Angesicht des Felsens von Masada, dessen Besatzung den Kampf bis zum Ende und den kollektiven Freitod der Unterwerfung vorzog (74 n. Chr.), und kaum einem Eidgenossen dürfte der Opfergang der Schweizer Garde in den Tuilerien (1792) viel bedeuten, aber in Spanien kann man eine Massenleserschaft für einen historischen Roman gewinnen, in dessen Schlüsselszene es um den „ultimo tercio" geht, der während der Schlacht von Rocroi (1643) die Ehre des Imperiums verteidigte. Und für die Amerikaner wird, wenn schon nicht die Schlacht am Little Bighorn (1876), dann doch die von Alamo (1836) ein entscheidendes Datum ihrer Geschichte bleiben.

Ähnliches gilt für den Kampf am Schipkapaß gegen das osmanische Heer (1877) im Gedächtnis von Bulgaren und Russen, oder für das Gefecht um das General Post Office in Dublin während des irischen Osteraufstands (1916). Eher auf das Militär als solches beschränkt ist die Erinnerung an die Männer der französischen Fremdenlegion, die bei dem mexikanischen Ort Camerone (1863) fielen; der 30. April wird von der Legion in jedem Jahr feierlich begangen und der offizielle Bericht über den Kampf vor den angetretenen Soldaten verlesen. Ein Zeremoniell, vergleichbar dem Kult um die Schlacht bei Isandhlwana (1879), eine vernichtende Niederlage, die die britische Armee gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Streitkräfte der Zulus erlitt. Charles Fripps bekanntes Gemälde „The Last Stand at Isandhlwana", das die rot uniformierten Soldaten des 24. Infanterieregiments zeigt, die sich ohne einen Schuß in den Läufen vor dem Ansturm des Feindes um ihre Fahne sammelten, entspricht in vielem den Darstellungen des letzten Karrees der Garde bei Waterloo, auch den literarischen, etwa in Victor Hugos „Die Elenden": „Als diese Legion zu einem geringen Häuflein zusammengeschmolzen, als ihre Fahne zu einem Lumpen zerschossen, als aus Mangel an Munition ihre Gewehre nutzlos wie Stöcke geworden, als der Leichen mehr waren wie der Lebenden …"

Es geht um etwas Grundsätzliches, eine bestimmte seelische Haltung, eine Neigung zu verlorenen Sachen, eine tragische – mithin „rechte" – Anschauung, die gerade dem Respekt zollt, was in der Geschichte vergeblich war, wenn es einem edlen Antrieb folgte.

Victor Hugo hat ganz wesentlich dazu beigetragen, diese Szene und den anschließenden Wortwechsel zwischen Cambronne und den Briten populär zu machen. Allerdings änderte sich mit seiner Darstellung, in der keine Rede war vom Sterben der Garde, sondern davon, daß Cambronne einfach mit „Merde" – „Sch..." auf das Ansinnen des Feindes geantwortet habe, die Atmosphäre des Geschehens. Es spricht vieles für Hugos Variante, angesichts der Lage, in der es Cambronne kaum um einen wohlformulierten Satz gegangen sein kann. Zu betonen ist aber, daß der Schriftsteller keine Abwertung im Sinn hatte – Cambronne war für ihn mehr als Leonidas –, eher der Szene etwas Lakonisches geben wollte und dem Mythos von Waterloo eine andere als die übliche Färbung. Das heißt, Hugo führte nicht die Deutung Napoleons und seiner Anhänger weiter, daß der Kaiser nur an der Inkompetenz seiner Unterführer und einer Aneinanderreihung fataler Umstände gescheitert war, sondern erkannte die Niederlage als solche ausdrücklich an, verstand sie aber als Opfer, das in sich den Keim des Neuen trug.

Eine Auffassung, die im Standhalten und dann im heroischen Ende der Garde ihre stärkste Verdichtung fand und erklärt, warum dieses Motiv, auch nachdem der Bonapartismus in Frankreich längst jede politische Bedeutung verloren hatte, immer noch wirksam blieb und dazu beitrug, daß Waterloo für das Bewußtsein der Nation mehr war als ein militärisches Desaster.

Es ist eine solche Auffassung des Geschehens für unsere – „postheroische" – Zeit kaum noch nachvollziehbar, was auch, aber nicht nur mit dem Mißbrauch der Formel vom „Kampf bis zum letzten Mann" zu tun hat.

Es geht eher darum, daß die üblichen Meinungen allem mit Mißtrauen begegnen, was ohne praktischen Effekt ist, jedenfalls nicht dem Massenlebenswert dient. Das heißt auch, daß die Berufung auf Ehre, Tugend, Ruhm immer als vorgeschoben gilt, daß grundsätzlich vermutet wird, dahinter lauere ein handfester Vorteil oder ein psychischer Defekt. Was umgekehrt die Fremdheit jeder Auffassung erklärt, die an der Bedeutung solcher Leitvorstellungen festhält.

Dabei muß es gar nicht die „Sehnsucht nach Etzels Halle" sein, von der Jünger sprach, oder Spenglers Hymne auf jenen Legionär, den die Lava begrub, weil er auf seinem Posten befehlsgemäß ausharrte, die Anerkennung für die preußischen Fähnriche, die in der Saale ertranken, weil sie das Feldzeichen nicht herausgeben wollten, für die Männer, die den Kurland-Kessel hielten oder die vietnamesischen Fallschirmjäger, die das Dach der US-Botschaft schützten, um die Flucht der letzten Zivilisten aus Saigon zu ermöglichen.

Es geht vielmehr um etwas Grundsätzliches, eine bestimmte seelische Disposition, eine Neigung zu verlorenen Sachen, eine tragische – mithin „reaktionäre", „konservative", „rechte" – Anschauung, die gerade dem Respekt zollt, was in der Geschichte vergeblich war, wenn es einem edlen Antrieb folgte, die sich weigert, dem Sieg als solchem Beifall zu spenden und das Opfer zu verachten, und die zuletzt einen Trost kennt: „… wer das Herz der Auserwählten zu rühren verstand, dem wird viel längere Zeit glühender Dienst geweiht werden, vielleicht nur in einer abgelegenen Kapelle, doch gesichert vor der Flut des Vergessens" (Miguel de Unamuno).



Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt aus Anlaß des 8. Mai über eine Rede Kurt Schumachers aus der unmittelbaren Nachkriegszeit („Ein ungebrochener Deutscher", JF 20/15).


Foto: Das Denkmal „Der verwundete Adler" unweit vom Gasthaus Belle-Alliance, 1904 an der Stelle errichtet, an der die letzten französischen Soldaten fielen: Was auch immer den Ausschlag dafür gibt, auf verlorenem Posten weiterzufechten – es muß eine mächtige Empfindung sein, und das Heldentum der wenigen wird durch die sichere Niederlage gerade nicht verdunkelt.