© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Rätseln über die Frage, warum die besten Köpfe auswandern
Deutschland ade
Thomas Kirchner

Anders als bei Einwanderern sind Akademiker unter Auswanderern aus Deutschland überproportional vertreten. Sie sind die ultimativen Wirtschaftsflüchtlinge. Auch wenn der Wunsch nach Auslandserfahrung an erster Stelle der Gründe für den Wegzug steht – letztlich geht es doch ums Geld. Oft heißt es dann, die „Arbeitsbedingungen" für Mediziner oder Forscher seien besser in den USA, der Schweiz oder Großbritannien. Das mag auf Forschungsmöglichkeiten zutreffen, aber der wichtigste Grund, der sich hinter diesem Neusprech versteckt, ist das Einkommen, was auch eine neue OECD-Studie eingesteht.


Vor ein paar Jahren erzählte mir ein Seniorpartner der renommierten Kanzlei Cleary Gottlieb, daß Junganwälte frisch von der Uni bei ihm 300.000 Dollar Jahresgehalt bekämen. Bei Medizinern und Ingenieuren sind die Gehaltsunterschiede ähnlich hoch. Kein Wunder, daß manch deutscher Juraabsolvent noch einen Master of Laws (LL.M.) dranhängt und – wie bereits 1,1 Millionen Deutsche – sein Glück in den USA sucht.


Trotz des Lamentos über soziale Ungleichheit stagnieren die deutschen Akademikergehälter. Warum? Ein US-Arbeitgeber muß damit rechnen, daß Führungskräfte kündigen und ihre eigene Firma gründen, die dann ein Konkurrent wird. In Deutschland besteht das Risiko kaum, die Chefs können deshalb ihren besten Angestellten ein moderates Salär bieten. Überhaupt haben potentielle Unternehmensgründer bessere Erfolgsaussichten in Ländern mit freieren Kapitalmärkten. Soziologen mögen Angelsachsen als Krämerseelen belächeln, doch wem der unternehmerische Nerv juckt, der wird dort eher Investoren mit dem nötigen Startkapital finden.


Dazu kommt das schlechte Gewissen, aber nicht jeder will freiwillig „soziale Verantwortung" in Form des Ablaßhandels stets steigender finanzieller Belastungen übernehmen. Erfolg steht hier unter Generalverdacht und wird von Miesepetern durch den Kakao gezogen. In den USA genießen Unternehmer den Status von Rockstars. In ausländischen Firmen stolpert man immer häufiger über Deutsche in Führungspositionen. Die „indische Mafia" hat aber die Nase vorne – das sind Absolventen indischer Eliteunis, die im Indira-Gandhi-Sozialismus keine Perspektive sahen, in die USA auswanderten und dort jetzt Spitzenfunktionen einnehmen. Der indische IT-Sektor wurde durch sie aufgebaut.


Das stimmt für Deutschland optimistisch, sollte die Atmosphäre marktfreundlicher werden und Rückkehrer anlocken. Doch bis dahin wird der Exodus anhalten. Staatliche Auffanglager für republikflüchtige deutsche Akademiker gibt es in den Aufnahmeländern übrigens keine.


OECD-Bericht „Talente im Ausland: Ein Bericht über deutsche Auswanderer":


www.oecd.org/berlin/publikationen/talente-im-ausland.htm