© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Ende der Schonfrist
Spanien: Die konservativ-katholische Basis setzt den Partido Popular in der Abtreibungsfrage unter Druck
Lukas Noll

Keine Experimente", warnte Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy im Vorfeld der Regional- und Kommunalwahlen. Ende Mai entschieden sich die Spanier aber doch für ein Experiment. Mit dem linken Podemos (Wir können) und den liberalen Ciudadanos (Staatsbürger) betraten zwei neue Kräfte die politische Bühne. Die großen Parteien, Rajoys Partido Popular (PP) und der sozialistische PSOE, vereinen zusammen nur noch 53 Prozent.

„Syriza light" lautet die Lesart, die die Abstimmung primär als Abrechnung mit der aus Brüssel und Berlin verordneten Sparpolitik ansieht. Kein Wunder, daß Rajoy nach der Wahl einen achtseitigen Frontalangriff auf die Europäische Zentralbank (EZB) startete: Deren Beschränkung auf die Preisstabilität sei für die Schuldenexzesse Südeuropas verantwortlich, wetterte Rajoy.

Doch der konservative Politiker macht es sich zu einfach. Er unterschätzt vor allem die explosive Stimmung an der eigenen Basis: Der Slogan „Váyase señor Rajoy", der Rajoy zum Rücktritt auffordert, ist noch einer der harmloseren der tausendfach verbreiteten Aufrufe, die Rajoys konservative Kritiker innerhalb und außerhalb der Partei in den vergangenen Monaten im Internet verbreiteten. Selbst Regionalfürsten des PP, wie der Präsident von Kastilien und León, Pablo Iglesias, artikulieren sie mittlerweile ganz offen. In der Regel werden die Statusmeldungen noch eindeutiger: „Yo rompo con Rajoy" deklariert den persönlichen Bruch mit dem Ministerpräsidenten und Chef der Partei – und längst verkehrt das Antibekenntnis nicht nur auf Twitter und Facebook, sondern als bedruckter Bus durch Spaniens Städte. Die Seite hazteoir.org (dt. etwa: „Verschaff dir Gehör!") hat es sich zum Ziel gesetzt, ein Exempel zu statuieren. Gehörte die konservativ-katholische Cyberlobby vor vier Jahren noch zu den vehementesten Unterstützern des PP und seines rekordhohen Wahlsiegs, ruft sie in diesem Jahr zum Boykott der Volkspartei auf. Fürchten muß sich nicht nur Rajoy selbst: Als sich die PP-Kandidatin für Madrid, Cristina Cifuentes, als Befürworterin einer Fristenregelung für Abtreibungen outete, widmete ihr HazteOir gleich einen eigenen Bus: „Si votas Cifuentes, votas aborto", zierte einen in der Parteifarbe Blau gehaltenen Nahverkehrsbus, der durch Madrid tourte: „Wenn du Cifuentes wählst, wählst du Abtreibung". Seit dem 24. Mai kann sich Cifuentes aussuchen, ob sie ihren Absturz der Abtreibungsfrage oder Podemos verdankt.

Lebensschützer als
Zünglein an der Waage

HazteOir ist kein unbeschriebenes Blatt – besonders beim Lebensschutz. Als das über 485.000 Mitglieder zählende Netzwerk gemeinsam mit der spanischen Lebensrechtsorganisation „Derecho a vivir" 2009 zum Protestzug gegen das sozialistische Abtreibungsgesetz aufrief, versammelten sich 1,5 Millionen Spanier auf Madrids Straßen. Spaniens linker Ministerpräsident, José Luis Zapatero, hatte dem katholischen Land damals das liberalste Abtreibungsgesetz Europas verordnet. Es garantierte abtreibenden Frauen Straffreiheit bis zur 14. Woche, bei Behinderungen sogar bis zur 22. Woche. Jugendlichen ab 16 Jahren erlaubte es sogar, die Abtreibung ohne elterliche Zustimmung durchführen zu lassen.

Die Empörung war groß – nicht nur seitens der einflußreichen katholischen Kirche. Auch der PP lockte damit, das Gesetz kippen zu wollen. Drei Jahre lang sah es ganz so aus, als käme die Volkspartei ihrem Versprechen nach. Als Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón seinen Gesetzentwurf vorstellte, sollten nicht nur die Reformen der Zapatero-Regierung rückgängig gemacht werden. Der Entwurf des konservativen Katholiken sah sogar den Erlaß einer strikteren als der bis 2009 geltenden Regelung von 1985 vor: Nur noch bei Vergewaltigungen und nachgewiesenen Gesundheitsrisiken wäre eine Abtreibung legal gewesen, eine Behinderung des Fötus oder der in der Vergangenheit inflationär bescheinigte psychologische Indikator hätten nicht mehr ausgereicht.

Am Ende schielte Rajoy auf die Umfragewerte, denen zufolge eine Mehrheit gegen eine Reform der Reform war, und kassierte den Entwurf von Minister Gallardón, der sich aus Protest aus der Politik zurückzog.

Einzig die Wiedereinführung der elterlichen Zustimmungspflicht für Minderjährige will der PP bis September nun durch das Parlament winken, nachdem er die Reform in der vergangenen Woche zum zweitenmal nach hinten verschoben hatte. Scheitern könnte das ausgerechnet an den parteiinternen Abtreibungsgegnern: Bis zu sieben PP-Abgeordnete sind es, die Rajoy mit seiner Minimalreform auflaufen lassen wollen. Bei einer nur zehn Abgeordnete starken Parlamentsmehrheit wäre das vier Monate vor den Parlamentswahlen ein Mißtrauensvotum – und Wasser auf die Mühlen von HazteOir-Chef Ignacio Arsuaga. „Wenn die Volkspartei unsere Stimmen zurückhaben will, muß sie unsere Werte verteidigen", kommentiert der 43jährige Rechtsanwalt das Ende der Schonfrist: „Wenn nicht, suchen wir uns andere Optionen, die sich mit unserem Gewissen vereinbaren lassen."