© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Der Flaneur
Man sieht nur, was man weiß
Sebastian Hennig

Als ich auf dem Rad hangabwärts rolle, fallen mir im Vorbeihuschen zwei Frauen mittleren Alters auf. Die sind ungewöhnlich zeitlos und achtsam gekleidet. Ihre braunen und dunkelblauen Röcke reichen über die Knie. Die Gesichter sehen frisch aus, als wären sie viel im Freien unterwegs. Als sie nach kurzer Absprache eine Klingel betätigen, fällt der Groschen: Hier wird Kaltakquise für Jehova betrieben. Später beim Einkaufen dann quert eine dralle Blonde den Parkplatz, eine echte Xanthippe, ein blondes Pferd von einem Weib. Sie trägt ein straffes rosafarbenes Oberteil und gleichfarbige enge Hosen. Auf schwarzen Absatzschuhen stöckelt sie nicht etwa zu ihrem Wagen, sondern zum Eingang der Saunawelt mit dem antikischen Namen.

Seit die Indezenz landläufig wurde, sind die dienstbaren Bajaderen kaum noch zu erkennen.

Als ich in die Gegend gezogen bin, glaubte ich noch an diese Sauna. Inzwischen habe ich im Vorübergehen hinter den Vorhängen rotes Licht flackern sehen. Von der Sauna ist hier nur die Nacktheit belangvoll, und geschwitzt wird in anderen Zusammenhängen.

Die dienstbaren Bajaderen sind selten in der benachbarten Kaufhalle anzutreffen. Seit die Indezenz landläufig und Promiskuität offenbar wurde, sind sie kaum noch herauszuerkennen. Man sieht ja ohnehin nur, was man weiß. Einmal wurde eine von einem menschenfreundlichen Großmütterchen am Kassenband vorgelassen, weil sie nur Limonade, Zigaretten und Schokolade kaufte. Heute wird im Eingangsbereich auf großen Plakaten ein Rollator wegen Sturzgefahr zurückgerufen. Mit dergleichen Instrumenten wurde einst kleinen Kindern das Laufen gelehrt. Jetzt wird mit ihnen das Laufen verlernt. Meine Großmutter war immer dagegen, als der Großvater frühzeitig einen Stock benutzte. Wer sich zu sehr auf die Stütze verläßt, der geht bald nicht mehr gerade. Ein Rollator? Da sei Gott davor! Solche Verrollkofferung des Spaziergangs werde ich nie mitmachen. Da verfaule ich doch lieber daheim im Ohrensessel, anstatt mich mit derlei Gerät auf der Straße antreffen zu lassen. Dann noch eher motorisiert ein surrendes Sesselchen mit Lenkrad reiten.