© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

„Ihr sollt die Wahrheit erben!“
Das im Mai eröffnete NS-Dokumentationszentrum in München und die einseitige Auswahl der Zeitzeugenberichte
Konrad Löw

Am Münchner Königsplatz, dort wo das „Braune Haus“, die Parteizentrale der NSDAP, stand, wurde das „NS-Dokumentationszentrum München“ eröffnet, auf den Tag genau siebzig Jahre nach dem Einrücken amerikanischer Truppen in die „Hauptstadt der Bewegung“, wie Hitler die bayerische Metropole getauft hatte. Der Besucher wird belehrt, daß es sich weder um ein Museum noch Ausstellungshaus, sondern um einen „Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus in München“ handelt. Wird das Zentrum dieser Vorgabe gerecht? 

Den Besuchern wird geraten, in den Aufzug zu steigen, um sich dann Stockwerk für Stockwerk nach unten zu bewegen: 4. Obergeschoß „Ursprung und Aufstieg der NS-Bewegung“; 3. Etage „Mitmachen–Ausgrenzen“; 2. Etage „München und der Krieg“; im ersten Stock „Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach 1945“. Ein 624 Seiten starker Katalog mit 850 Abbildungen für 28 Euro (außer Haus 38 Euro) bietet anscheinend Gewähr, daß hier Sorgfalt und Wissen wenn schon nichts Erfreuliches, so doch Gediegenes geschaffen haben. 

Und doch enttäuscht die Ausstellung den, der die zahlreichen Bekundungen der glaubwürdigen Zeitzeugen kennt. Das soll an einem Beispiel, das für viele steht, veranschaulicht werden. Da heißt es: „Das tägliche Leben und der öffentliche Raum waren seit 1933 durchdrungen vom Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Dafür sind die Grußformel ‘Heil Hitler’ und der ‘Hitlergruß’ bezeichnend.“ Doch „das tägliche Leben“ war davon nicht durchdrungen, wie jeder weiß, der damals in München lebte. Auch wer in Erinnerungen an diese Jahre liest, wird entsprechend belehrt, so vom von der NS-Rassegesetzgebung diskriminierten Journalisten Theodor Michael: „In München war in diesem Herbst die Stimmung heiterer und gelassener als in Berlin. Hinter mir grüßte jemand mit dem Deutschen Gruß ‘Heil Hitler’, einige der Anstehenden brummelten irgend etwas, was so ähnlich klang. Danach kam eine Frau, die ‘Guten Tag’ sagte. Sie wurde völlig ignoriert. Danach stellte sich ein älterer Herr mit einem frischen ‘Grüß Gott’ an und fast alle drehten sich um und gaben den Gruß zurück. Ich wunderte mich und fing an zu begreifen, daß die Dinge in München keineswegs immer so waren, wie sie schienen.“ 

Selbst im fernen Dresden war dieser Sachverhalt nicht unbekannt, wie den Aufzeichnungen Victor Klemperers zu entnehmen ist, der einen Bekannten zitiert: „Es kommen viele Menschen zu mir. Zuerst weit ausgestreckter Arm, Hitlergruß. Dann tasten sie sich im Gespräch heran. Dann, wenn sie sicher geworden sind, fällt die Maske. (…) Ich war eben in Süddeutschland. Da hört man sehr selten das ‘Heil Hitler’ – meist ‘Grüß Gott’!“

„Der Münchner erträgt den Nationalsozialismus“

Ein Portrait macht den Besucher mit der Jüdin Else Behrend-Rosenfeld bekannt. Doch was von ihr in der Ausstellung zitiert wird, ist nichtssagend. Vergebens sucht der Gast Texte wie: „Wenn übrigens durch die Inschriften von der Partei bezweckt worden war, den Juden den Einkauf unmöglich zu machen, sie an den dringendsten Bedürfnissen des täglichen Lebens Not leiden zu lassen, so ist dieser Zweck nicht nur nicht erreicht, sondern beinahe in sein Gegenteil verkehrt worden. Die Nachbarn und Bekannten, ja in vielen Fällen die Inhaber der Geschäfte, die jüdische Familien zu Kunden hatten, beeilten sich, ihnen alles, was sie brauchten, oft in Fülle und Überfülle, in die Wohnungen zu bringen.“ Als sie das schrieb, lebte sie in München.

Was der in München geborene Lion Feuchtwanger an der Stadt während der Weimarer Zeit auszusetzen hatte, teilt uns das Dokumentationszentrum wörtlich mit, nicht jedoch, was der Exilierte 1936 schrieb, sicher auch und gerade seine Vaterstadt vor Augen: „Tröstlich bleibt eines: Immer wieder finden sich in den hier zusammengestellten Berichten kleine Geschehnisse verzeichnet, die beweisen, daß weite Teile der Bevölkerung nicht einverstanden sind mit dem, was sich in Deutschland ereignet. (...) Das deutsche Volk ist nicht identisch mit den Leuten, die heute vorgeben, es zu vertreten. Es wehrt sich gegen sie.“

Der Besucher erfährt, daß der abgebildete Waldemar von Knoeringen für die Exil-SPD als Grenzsekretär für Südbayern zuständig war. Als solcher nahm er die Meldungen aus dem dortigen Raum entgegen und wertete sie aus. Unter der Überschrift „Deutsche Städtebilder“ veröffentlichte die bis 1938 in Prag amtierende Partei aufschlußreiche Beobachtungen, an denen von Knoeringen, München betreffend, sicher mitgewirkt hat: „Trotz aller Bemühungen, trotz der vielen repräsentativen Veranstaltungen, trotz der Sonderstellung, die München als Kunststadt genießt, kann man ruhig sagen: München ist keine nationalsozialistische Stadt, und sie ist es auch nie gewesen. Der Nationalsozialismus hat seine Anziehungskraft eingebüßt. Der Münchner erträgt ihn, wie eine unabänderliche Schickung des Himmels und sucht auf seine Art sich herauszuwinden, wo er nur kann, ohne dabei  mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten. (…)Reisende aus Berlin zum Beispiel haben schon oft festgestellt, daß man in München viel freier leben könne, weil schon die ganze Atmosphäre anders sei.“ Von diesen beachtlichen Zeugnissen findet sich im Dokumentationszentrum nichts.

In der Einführung wird Anita Lasker-Wallfisch, die Cellistin von Auschwitz, zitiert: „Ihr sollt die Wahrheit erben!“ Gemeint ist sicher die ganze Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehören vor allem die München betreffenden Bekundungen der Zeitzeugen. Doch gerade sie kommen nicht zu Wort. Einige wenige werden als Objekte zur Schau gestellt. Das muß sich ändern, gleichgültig, ob ihr Wort unseren Erwartungen entspricht oder nicht.






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“ (München 2010).