© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Haben Liberale eine „rechte Flanke“? Die Replik eines „Reaktionärs“
Im linken Lager gelandet
Erich Weede

Die Angst davor, als „rechts“, „konservativ“ oder gar „national“ zu gelten, nimmt in Deutschland merkwürdige Formen an. Zu meinem Entsetzen mußte ich am 17. Mai in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lesen, daß auch die Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft sich den Geboten der Politischen Korrektheit unterwerfen will. Seitdem weiß ich, daß ich – obwohl Gründungsmitglied der Hayek-Gesellschaft – jedenfalls für Karen Horn ein Reaktionär bin, vermutlich Schlimmeres.

Zwar bekennt sich Karen Horn am Anfang ihres Aufsatzes („Die rechte Flanke der Liberalen“) noch zur hayekianischen Kritik an Umverteilung und Planwirtschaft, an Gleichmacherei und bürokratischer Bevormundung; aber gegen Ende ihres Aufsatzes erklärt sie das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer zur „staatlichen Diskriminierung“ und „Privilegierung von Alleinverdiener­ehen“.

Natürlich sind Mitglieder der Hayek-Gesellschaft in theologischen Fragen, bei Geschlechterrollen, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin oder der sich gerade verschärfenden Massenzuwanderung aus fremden Zivilisationen nach Europa unterschiedlicher Auffassung. Wenigstens einen Konsens hatte ich unterstellt. Es soll Selbsteigentum, Privateigentum und das Recht an den Früchten der eigenen Arbeit geben. Das Einkommen gehört dem, der es erarbeitet, nicht einem Kollektiv oder dem Staat. Steuern müssen trotzdem sein, wenn der Staat überhaupt irgendwelche Probleme lösen soll. Aber Hayekianer sind der Ausweitung der Staatstätigkeit gegenüber skeptisch eingestellt – und damit notwendigerweise verknüpft: der Enteignung der Menschen, vor allem im angeblichen Interesse einer diffusen „sozialen Gerechtigkeit“.

Hayek selbst hat die Steuerprogression abgelehnt. Er hat die Gefahr gesehen, die mit einer progressiven Steuer verbunden ist: Eine Mehrheit von Nichtzahlern oder Fast-nichts-Zahlern kann die zunehmende Belastung der Minderheit beschließen. In den meisten westlichen Demokratien, auch in Deutschland, trägt die ärmere Hälfte der Bevölkerung kaum zum Einkommensteueraufkommen bei, tragen schon die oberen zehn Prozent annähernd die halbe Last. Bei der von Hayek befürworteten Proportionalsteuer, heute meist Flat Tax genannt, könnte das bei Karen Horn erwähnte Splittingproblem bei Eheleuten gar nicht auftauchen, könnte niemand begünstigt oder diskriminiert werden. Aber wir haben nun mal die Steuerprogression.

Wenn Karen Horn das Ehegattensplitting abschaffen will, dann läuft das für alle Ehepaare, die vom allein noch politisch korrekten Einkommensverhältnis 50 zu 50 abweichen (vermutlich die Masse der Ehepaare), auf eine Steuer­erhöhung und eine Verschärfung der Progression hinaus. Braucht ein Land, in dem ledige Durchschnittsverdiener annähernd die Hälfte ihres erarbeiteten Einkommens an den Staat und seine Zwangsversicherungen abtreten müssen, Steuererhöhungen? Ich finde es befremdlich, die Forderung nach einer Steuererhöhung und implizit einer Verschärfung der Progression ausgerechnet von der Vorsitzenden der Hayek-Gesellschaft zu hören. Will Karen Horn bei ihrem großen Sprung nach links die Sozialdemokraten gleich überspringen, um im links-grünen Lager zu landen?

Karen Horn ist zwar prinzipiell gegen Bevormundung, aber wenn das Gleichheitsziel bei der Aufteilung von Arbeit und Einkommen verfehlt wird, dann fordert sie Sanktionen. Ist es noch hayekianisch, den Wert der Gleichheit über den der Freiheit zu stellen?

Dabei hat die Autorin auch ihre vorher einmal geäußerte Skepsis gegenüber bürokratischer oder staatlicher Bevormundung vergessen. Nach dem noch geltenden Steuerrecht ist es jedem Ehepaar überlassen, wie es außerhäusliche Erwerbsarbeit und innerhäusliche Arbeit verteilt, ob im Verhältnis hundert zu null oder fünfzig zu fünfzig. Dank des Splittings werden gleiche Einkommen eines Ehepaars gleich behandelt. Das nennt man auch Besteuerung nach Leistungsfähigkeit.

Man könnte hier das Problem der unzureichenden Berücksichtigung von Kindern aufwerfen, aber das diskutiert Frau Horn nicht. Sie ist zwar prinzipiell gegen Bevormundung, aber wenn das Gleichheitsziel bei der Aufteilung von Arbeit und Einkommen von einem Ehepaar verfehlt wird, dann fordert sie Sanktionen. Ist es noch hayekianisch, den Wert der Gleichheit über den der Freiheit zu stellen?

Karen Horn verlangt in ihrem Aufsatz, „daß man die Persönlichkeit eines Mitmenschen respektiert und ihr Raum gewährt“. Sie fordert also zivilisierte Umgangsformen. Am Ende ihres Aufsatzes beruft sie sich auf den Philosophen Karl Popper (1902–1994). Der hat immer wieder darauf verwiesen, daß Menschen sich irren, daß es keine Gewißheit über den Besitz der Wahrheit geben kann, daß man seine eigene Auffassung immer wieder überprüfen sollte. Popper sieht im Mitmenschen eine Quelle von Argumenten, die vielleicht wahr oder besser als die eigenen sein könnten.

Ich möchte hinzufügen: Wenn eine Theorie oder ein Standpunkt dominant oder „politisch korrekt“ ist, besteht kaum die Gefahr, daß die vorgebrachten Argumente übersehen werden. Bei unbeliebten oder politisch unkorrekten Auffassungen ist diese Gefahr um so größer. Im Interesse des Erkenntnisfortschritts ist sorgfältiger Umgang gerade mit selten vorgebrachten Argumenten erforderlich, vor allem mit „politisch unkorrekten“. Karen Horn sieht das nicht so. Sie nutzt die Gelegenheit, auf Thilo Sarrazin einzuprügeln, ohne sich inhaltlich mit seinen Hauptargumenten auseinanderzusetzen. Das Einprügeln auf Sarrazin dient nicht der kritischen Auseinandersetzung – dann müßte man zentrale Argumente von nebensächlichen unterscheiden –, sondern nur der Abgrenzung nach rechts.

Bisher hielt ich Wilhelm Röpke immer für einen Hayek eng verbundenen Gesellschaftstheoretiker und Ordnungspolitiker. Beide haben für eine freiheitliche statt kollektivistische Gesellschaft gekämpft. Beide hatten sich dem Zugriff Hitlers und seines Dritten Reiches durch Emigration entzogen. Für Karen Horn ist Röpke ein „Reaktionär“, wenn auch ein „liebenswerter“. Der von ihr geforderte zivilisierte Umgang mit Andersdenkenden drückt sich offenbar in einer gepflegten Mischung von Verurteilung und Herablassung aus.

Ein bei Horn nicht erwähntes Röpke-Zitat macht nachvollziehbar, warum die Autorin ihn für einen Reaktionär hält. Das Zitat leitet außerdem über zu dem Thema, das sie in ihrem Aufsatz am meisten aufzuregen scheint: die Einstellung zu Fremden, die durch die Massenzuwanderung immer wichtiger wird. Dazu hatte Röpke – lange bevor sich die gerade erst begonnene Massenzuwanderung aus dem islamischen und dem afrikanischen Kulturkreis auch nur abzeichnete – folgendes geschrieben: „Was die Masseneinwanderung betrifft, so besteht zweifellos nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht jeder Nation, sie einer qualitativen Kontrolle zu unterwerfen, die das geistige Patrimonium, die politische Tradition, den ethnisch-sprachlichen Charakter und die soziale Struktur des Landes vor einer unter diesen Gesichtspunkten unerwünschten Einwanderung schützt.“

Karen Horn lehnt das Unbehagen vieler Europäer an einer Massenzuwanderung, bei der letztlich die Zuwanderer allein bestimmen, ob sie bei uns bleiben, ab. Daß die schnelle Rückführung abgelehnter Asylbewerber aus Deutschland oder Europa klappt, konnte ich bisher noch nirgendwo lesen. In den USA hat es allerdings schon Massenausweisungen gegeben. Australien läßt die Boote gar nicht erst landen.

Bei Zuwanderern aus fremden Kulturkreisen ist es unwahrscheinlich, daß sie dieselben Normen wie die Einheimischen für vernünftig halten. Wer zuviel Heterogenität ablehnt, bevorzugt nur eine Gesellschaft, in der Konsens den Bedarf an Zwang begrenzt.

Wir Europäer und wir Deutschen tun uns schwer damit, Menschen zurückzuweisen, die in unser Land wollen. Muß diese Ablehnung auf einer „reaktionären“ oder „nationalistischen“ Einstellung beruhen? Überhaupt nicht! Das kann man anders begründen. Dabei kann ich mich nur indirekt und stellenweise auf Hayek berufen, weil zu dessen Lebzeiten die Masseneinwanderung aus nichtwestlichen Zivilisationen noch nicht einmal annähernd heutige Dimensionen erreichte, er dieses Problem auch nicht vorhergesehen hat.

Warum ist Massenzuwanderung problematisch? Das ist so, weil soziale Normen und der kodifizierte Teil der Normen, das Recht, am besten funktionieren, wenn die meisten Menschen Normen und Recht freiwillig einhalten. Das tun sie am ehesten, wenn Normen den eigenen Traditionen und kulturellen Selbstverständlichkeiten entsprechen. Bei Zuwanderern aus wirklich fremden Kulturkreisen ist es unwahrscheinlich, daß sie dieselben Normen wie die Einheimischen für selbstverständlich oder vernünftig halten. Ethnische, religiöse oder kulturelle Heterogenität schafft Probleme. Diese Aussage enthält keine Bewertung und damit auch keine Überbewertung der eigenen Kultur und keine Abwertung fremder Zivilisationen. Wer zuviel Heterogenität ablehnt, bevorzugt nur eine Gesellschaft, in der Konsens den Bedarf an Zwang begrenzt.

Bei Hayek äußert sich diese freiheitliche Einstellung in seiner Präferenz für das angelsächsische „common law“, das sich an Traditionen orientiert, das deshalb „gefunden“ werden kann, gegenüber dem kontinentalen gesetzten Recht, das man als „erfunden“ bezeichnen könnte. Wenn man die langsam zunehmende Heterogenität von europäischen Gesellschaften betrachtet, dann sollte man weniger auf den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung blicken als auf den bei Kindern und Jugendlichen. Dann ist der Anteil in Deutschland schon jetzt in der Nähe von einem Drittel.

Nicht nur Nachdenken über die Ordnungsfunktion sozialer Normen muß zur Skepsis gegenüber kultureller Heterogenität führen. Ich sehe auch einen Zusammenhang zwischen kultureller Heterogenität einerseits und politischer Instabilität, Bürgerkrieg oder Staatszerfall andererseits. Beispiele fallen einem massenhaft ein: Jugoslawien ist zerfallen, weil katholische Kroaten, orthodoxe Serben und muslimische Bosnier oder Kosovaren nicht mehr miteinander leben wollten. In Syrien tobt ein Bürgerkrieg. Alawiten, Sunniten und Christen, Säkulare und Islamisten, Araber und Kurden haben dort recht unterschiedliche Vorstellungen.

Man könnte auch an den Libanon oder den Irak, an Nigeria oder Ruanda denken. In den USA klappt das Zusammenleben zwischen Schwarzen und Weißen nicht immer. Ist man Rassist, wenn man befürchtet, daß wir Deutschen mit kultureller Heterogenität nicht besser als andere Gesellschaften umgehen können? Oder ist es nicht vielmehr ein verkappter Überlegenheitsanspruch, wenn man davon ausgeht, daß wir Integrationsleistungen vollbringen, die anderswo immer wieder mißlungen sind? 






Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politologe, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Zuletzt plädierte Weede auf dem Forum für einen echten Kapitalismus, der sich geschichtlich durchsetzen werde („Pfad der Freiheit“, JF 47/11).

Foto: Sozialdemokratische Gedankenwelt und ausgreifend-einschüchternder Staat: „Ich finde es befremdlich, die Forderung nach einer Steuererhöhung ausgerechnet von der Vorsitzenden der Hayek-Gesellschaft zu hören.“ Um die Unantastbarkeit des Privateigentums und das Recht an den Früchten der eigenen Arbeit, vor allem aber um eine gute Diskussionskultur, ist es in Deutschland schlecht bestellt, meint der Mitgründer der Hayek-Gesellschaft Erich Weede.