© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Pankraz,
Ulla Lenze und der ästhetische Mehrwert

Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ So deklarierte es einst im zwanzigsten Jahrhundert der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) – und die Schriftstellerin Ulla Lenze (41) entgegnet ihm jetzt im einundzwanzigsten: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schreiben.“

Im ersten Moment klingt das schrecklich zeitgeist-typisch. Das 21. Jahrhundert ist ganz offensichtlich „das schreibende Jahrhundert“, und das liefert Gründe für schlimmste Befürchtungen. Jeder Depp, der weder ordentlich denken noch ordentlich sprechen kann, kann trotzdem „schreiben“; das Internet liefert ihm die Möglichkeit dazu, und schlimmer noch: es sorgt dafür, daß sein Geschreibsel potentiell weltweit bekannt wird, jederzeit „abgerufen“ werden kann, gleichsam in die digitale Ewigkeit eingeht. Wittgenstein kann sich nur noch im Grab umdrehen.

Wie kommt ausgerechnet Ulla Lenze dazu, solchen Horror zu erzeugen? Schließlich ist sie nicht irgendwer, sondern eine der besten Schreiberinnen, die wir im Augenblick haben, eine echte „poeta docta“, eine gelehrte Dichterin vom Schlage Ricarda Huchs, deren Bücher sowohl poetische wie philosophische Genugtuung bereiten. Ihr neuer, soeben in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienener Roman „Die endlose Stadt“ hat die Rezensenten über alle Lager hinweg regelrecht in Begeisterung versetzt.


Ulla Lenze dichtet nicht nur, sondern philosophiert auch, und zwar äußerst kenntnisreich und methodensicher. Ihre Staatsexamensarbeit an der Kölner Universität ging über Hegels Lehre von der Dichtung. Während langer Asienreisen machte sie sich intensiv mit den Weisheitslehren des Buddhismus, des Konfuzianismus und des Shintoismus bekannt. Heute leitet sie – neben dem eigenen Schreiben – die sogenannte Prosawerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung für Nachwuchsautoren und findet dabei so manchen Anlaß, über das Verhältnis von Dichten und Denken, Romanschreiben und Philosophieren nachzusinnen.

Philosophie und Literatur, so konstatiert sie, gehören ganz eng zusammen. Sicher, die Literatur erfindet (sollte es wenigstens), die Philosophie findet nur (oder bildet sich das wenigstens ein). Aber beide kreisen um dieselben Fragen, nämlich um das, was sich nicht unbedingt von selbst versteht, jedoch unbedingt als selbstverständlich erkannt werden sollte. Beide durchstoßen also den Alltagstrott, der uns in Routine und ewige Wiederholungen zwingt. Sie machen die Außerordentlichkeit des Lebens, gleichsam seine Ästhetik,  erfahrbar, und ihr gemeinsames Medium ist die außerordentliche, die „elaborierte“ Sprache.

Beide machen Anleihen beieinander, es gibt philosophische Passagen in berühmten Romanen, und es gibt metaphernreiche und dramaturgiebewußte philosophische Texte, von Platon bis Heidegger, von Konfuzius bis Nietzsche. Doch es gibt auch, bei aller Durchmischung, gravierende Unterschiede. Einer der Hauptunterschiede, sagt Ulla Lenze, liege darin, daß der Dichter ein faktisch unwiederholbares Werk schaffe, ein „Kunstwerk“, während das Ziel des Philosophen die „Lehre“ sei. Die Sprache des Dichters sei auf Einmaligkeit aus, die des Philosophen auf Übernahme und Anwendungsfähigkeit.

Zitat Ulla Lenze: „Alles, was in der philosophischen Sprache meist nur Zusatz ist und nicht sinngebend – der Klang, der Rhythmus, poetische Momente, Anschaulichkeit durch Metaphorik –, ermöglicht eine Erfahrung, die sich jenseits des referierbaren Sinns abspielt. Die Literatur aber konstituiert in jedem Moment das, was sie erzählt, als Gesamtheit von Inhalt und Klang in sinnlicher Evokation. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten (…)  propagierte diese sinnliche Erkenntnis, die cognitio sensitiva, als unverzichtbare (und seriöse) Form der Erkenntnis – neben der rationalen.“


Dazu wären, findet Pankraz, mancherlei Einwände fällig. Ulla Lenze spricht gern vom „ästhetischen Mehrwert“, den die Dichtung brauche, um sich auffällig und begehrenswert zu machen, die Philosophie aber nicht. Das stimmt einfach nicht. Dem „Aufklärer“ und Christian-Wolff-Schüler Baumgarten (1714–1762) mochte es seinerzeit so erscheinen; Philosophie, so glaubte er, sei strengste Logik und nichts als Logik, sie habe keinerlei cognitio sensitiva nötig, diese sei ihr sogar abträglich. Jedoch schon die kurz danach anbrechende Ära der Klassik und Romantik widerlegte den Mann völlig.

Immanuel Kant mit seinen sinnsiftenden Schlagworten („Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“, „Kategorischer Imperativ“), der gewaltige Rhetoriker Fichte, die unerhörte Silberzunge Schopenhauer, Nietzsche, der „mit dem Hammer“ philosophierte – sie alle machten unmißverständlich klar, daß die Philosophie ein ebenso ästhetisches wie logisches Geschäft sein muß, um überhaupt Schüler anzuziehen und zu begeistern. Martin Heidegger versuchte später, das philosophische Sprechen direkt der Poesie anzunähern, ihr Konkurrenz zu machen, ohne dabei  den Begriff des konkreten Wissens außer Kurs zu setzen.

Nicht anders war es schon in den Anfängen des elaborierten Denkens zugegangen, bei Konfuzius und Lao-tse, bei Parmenides und Sappho. Poesie und Philosophie sind Geschwister, sie sprechen am Grund die gleiche Sprache, verteidigen sie nur an verschiedenen Fronten. Die Philosophie steht gegen den Andrang eines positivistisch verkürzten, einzig auf Technifizierung und Verbequemlichung ausgerichteten Wissenschaftsjargons, die Poesie gegen die Zumutungen unbestimmt herumheulender Jung-Schamanen und „Ereigniskünstler“, die ihr Gebrüll bereits für Kunst halten.

Festzuhalten bleibt auf jeden Fall: Es ist sehr gut, daß es gelehrte Dichterinnen wie Ulla Lenze gibt, die Romane schreiben und gleichzeitig über Hegel promovieren. Ihren Spruch gegen den armen Wittgenstein sollte man ein bißchen abwandeln: „Worüber man nicht sprechen kann (oder mag), darüber sollte man wenigstens gute Texte lesen (oder lesen dürfen).“