© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Insel der Widerspenstigen
Inspirierender Besuch auf Chiloé: Nirgendwo formen sich Widerstand und Gespenster so elegant zu einem Wort wie auf dem einsamen Eiland im Süden Chiles
Lukas Noll

Zwei Meter hoch in der Luft hängend geht mit dem kurvigen Steg plötzlich auch die Welt zu Ende. Nur ein paar Schritte erlaubt der etwas morsch aussehende, auf Stelzen gebaute Holzsteg auf dem letzten Gang, dann endet er abrupt im Nichts. Weiter unten brechen die harten Wellen des Südpazifiks gegen die steile Felswand, auf einer vorgelagerten Klippe im Wasser wälzt sich eine Gruppe Seelöwen. Der Horizont ist plötzlich zum Greifen nah und verschwindet doch rasch wieder in weiter Ferne, macht man sich bewußt, daß das nächste Stück Land von hier aus Neuseeland ist. 8.500 Kilometer gen Westen, der dort schon wieder Osten heißt. 

Der Horizont, den Sergio meint, dürfte irgendwo auf dem Weg dahin liegen. Dort bringt das Geisterschiff „El Caleuche“ der chilotischen Legende nach die Seelen der Verstorbenen hin, die auf dem „Muelle de los Almas“, dem Steg der Seelen, auf die letzte Überfahrt warten. Musik spielen und Lichtsignale senden soll es – und nur bei Nebel zu sehen sein, darin ist man sich einig. 

Nur über die Besatzung des Schiffes scheiden sich buchstäblich die Geister. Manche vermuten eine Crew versklavter Matrosen, andere eine Gruppe von Hexern. „Natürlich nur eine Sage, da wurde nie jemand abgeholt“, erzählt der 54jährige Chilote uninspiriert, fast gelangweilt.

„Richtige Bestattungen finden hier auch nicht statt.“ Doch so mürrisch Sergio die Legende auch zu entzaubern versucht, gelingt es ihm nicht, ihr das Rätselhafte, Fantastische zu nehmen. Überall, aber nicht an einem solchen Ort, der ein wenig an die Anfurten erinnert, jenen Hafen, von dem aus Tolkiens Elben Mittelerde in Richtung Ewigkeit verlassen. 

Mit der Parallele zur Phantasiewelt von „Herr der Ringe“ freundet man sich auf der „Isla Grande de Chiloé“ schnell an, erinnert Südamerikas zweitgrößte Insel an Feuerland – jedoch allerorten verblüffend zudem ans Auenland. Fast vollkommen ist Chiloé mit grünen Hügellandschaften bedeckt, die an der Pazifikseite mit dichtem patagonischem Regenwald bewachsen sind. Der bietet Tieren eine Heimat, die nur hier vorkommen – wenn schon keinen Fabelwesen, so doch dem scheuen Pudu als kleinstem Reh der Welt.

Hobbithäuschen sucht man dagegen vergebens, so wie überhaupt nennenswerte Siedlungen an der zum Ozean gewandten Seite. Die Hütte, die Sergio mit seiner Familie bewohnt, steht weit und breit allein im Wald und ist bloß lose an die Siedlung Rahue angegliedert, die eine Fußmarschstunde entfernt liegt  und damit immer noch kilometerweit vom nächsten Dorf, ohne daß ein Bus die unwegsame Schotterpiste befahren würde. 

Sergio ist das egal. Auf dem Land, das schon seinen Vorfahren gehörte, verlangt er zwar 2.000 chilenische Pesos Eintritt, umgerechnet knapp drei Euro. Doch Massentourismus würde den Ort nur zerstören, ist er sich sicher. So erfreut er sich am Geheimtipstatus seines Seelenstegs, den die Familie vor rund zehn Jahren errichtet hat, um der Legende zu sichtbarer Symbolik zu verhelfen. Auch die New York Times empfahl ihren Lesern Chiloé bereits 2012 auf einer Liste von 45 Orten, die es dringend zu besuchen gelte, bevor sie ihren Charme verlören. Auch der Kinofilm „Caleuche“ machte die Legende rund um das Geisterschiff noch im gleichen Jahr international bekannt.

Eher ungewollte Landsleute der Chilenen

Sergio wird das wenn dann verzögert bemerken: Nur individuelle Touren finden bislang an den entlegenen Seelensteig. Anhalterglück inklusive. Über eine Mitfahrgelegenheit auf dem Hinweg sollte man sich dabei nicht zu früh freuen: Wer Pech hat, muß auf dem Rückweg die acht Kilometer Schotterstraße bis zur nächsten Ortschaft zu Fuß auf sich nehmen. Pech, nicht aufgrund Chiloés malerischen Wechselspiels zwischen unbevölkerten Stränden, Urwald und den sandsteinfarbenen Felswänden, die steil in den Pazifik abfallen. 

In Mitleidenschaft dürften Wanderlustige eher die Tabanos ziehen: Die hartnäckigen Brummer verfolgen ihre Opfer teilweise kilometerlang in hektischen Kreisbewegungen um den Kopf. Maria und Esteban sorgen am Wegesrand für einen letzten Proviant. In einer Baracke, unscheinbar hinter einer Hecke versteckt, bietet das junge Ehepaar eine Art chilotischen Hotdog mit Avocado an, den man wohl an jedem anderen Ort der Welt dankend abschlagen würde. Während Maria in der Küche Instantkaffee zubereitet, läßt Esteban den Blick aufs Meer schweifen. 

In der Hauptstadt Santiago war er noch nie. „Was soll ich denn da?“ fragt er sichtlich ablehnend. „Wir haben’s hier doch so schön. Ich wollte an keinem anderen Ort der Erde sein.“

Mehr als tausend Kilometer sind es bis nach Santiago, mental wähnen sich die Chiloten noch deutlich weiter weg vom Treiben der modernen Millionenstadt. Als von Santiago aus 1810 der Unabhängigkeitskampf begann, schlugen sich die Chiloten königstreu auf die Seite der spanischen Kolonialherren. 

Daß die Insulaner sechzehn Jahre später doch zu ungewollten Landsleuten wurden, mußte Santiago gegen erbitterten militärischen Widerstand Tausender „Royaler Chiloten“ erkämpfen – nur um der frisch eroberten Insel anschließend kaum noch Beachtung zu schenken. Noch zu Zeiten der Pinochet-Diktatur war die Insel vornehmlich als Verbannungsziel bekannt. 

Dabei könnte die chilotische Widerstandsfähigkeit mit der Muttermilch aufgesogen sein: Die Huilliche, von denen fast alle Inselbewohner abstammen, gehören zum Volk der Mapuche: Bekannt sind die Mapuche vor allem als die letzten Indianer, die der hispanischen „Conquista“ noch immer gelegentlich gewaltsamen Widerstand leisten. Die Huilliche auf Chiloé wollen davon aber nichts mehr wissen. 

Nur durch Wanderwege mit der Außenwelt verbunden, siedeln sie tief versteckt im Urwald des „Parque Nacional Chiloé“. Hier kann das Essen noch in Erdmulden zubereitet werden, wie es der Rest Chiloés nur noch für die Touristen betreibt. Wie schön es die Huilliche hier haben, wußte bereits Chiles Nationaldichter Pablo Neruda: Wer den chilenischen Wald nicht kenne, der kenne den Planeten nicht, resümierte der Poet nach seinen Spaziergängen im Süden Chiles.

Gestrandete Schiffswracks, wohin das Auge blickt

Der Weg zum endzeitlichen Seelensteig scheint da eine hervorragende letzte Chance zu sein, den Planeten doch noch kennenzulernen. Doch der „Muelle de los Almas“ ist keineswegs der einzige Platz, an dem man auf Chiloé das Ende der Welt verortet. Obwohl die Insel dem nördlichen Teil Patagoniens vorgelagert ist und damit immer noch mehr als 1.500 Kilometer vom Kap Hoorn entfernt liegt, vermitteln viele Orte auf der Insel das Gefühl,  längst an der Südspitze des Kontinents angelangt zu sein. 

Die meiste Zeit des Jahres über hüllt grauer Nebel die unzähligen kleinen Buchten in eine gespenstische Kulisse, wenn es nicht gerade wieder einmal regnet. Auch liegen auf der zum chilenischen Festland gewandten Inselseite, wohin das Auge blickt, gestrandete Schiffswracks am Ufer, deren beste Zeiten längst vorüber sind. Die mittlerweile moosbewachsenen Netze bleiben trotzdem ausgeworfen, als würden die Fischer darauf hoffen, daß die Flut eines Tages wieder Fische hineinschwemmen würde. 

Wer das Ende der Welt plastischer ausgedrückt haben will, sollte die Ruta 5 bis zur Südspitze der Insel herunterfahren: In der grauen Hafenstadt Quellón endet der chilenische Abschnitt der legendären „Carretera Panamericana“ mit einem monumentalen Anker, dem „Grenzstein Null“. Noch weiter südlich führt die Panamericana nur durch Argentinien, wobei die Strecke bereits nördlich von Santiago ins Nachbarland abzweigt. Auf chilenischer Seite ist man auf die Fähre angewiesen, die vier Tage lang durch das von Gletschern und Fjordlandschaften zerstückelte Südpatagonien bis zum „Fjord der letzten Hoffnung“ in Puerto Natales tuckert.

Doch es wäre vermessen, Südamerikas grüne Insel zur tristen Endstation im Südwesten zu verklären. Im Gegenteil: Fast nirgendwo zeigt sich das reich und damit mitunter krampfhaft europäisch gewordene Chile so originär lateinamerikanisch wie jenseits des nur zwei Kilometer breiten Kanals von Chacao, der die Insel von der geschäftigen Hafenstadt Puerto Montt trennt. Marktschreier wollen in baufälligen Hallen Fisch und Meeresfrüchte an den Mann bringen, im kleinen Städtchen Dalcahue wird mit hausgemachtem Brot geworben. Die Besitzer sind stolz auf ihr „Pan artesanal“ und darauf, nicht aufs Toastbrot im Supermarkt angewiesen zu sein. Das Brot ist warm und kommt frisch aus dem Ofen, die Quesería ein paar Häuser weiter sorgt für den verschmelzenden Aufstrich. 

Aus einem vorbeifahrenden alten Bus klingt die inseleigene Latino-Schlagermusik, eine durchdringende Mischung aus Folklore und 60er-Jahre-Musik. Die Uhren scheinen auf Chiloé nicht nur langsamer zu ticken, sondern auch in einer anderen Zeit. Chile zeigt sich auf seiner widerspenstigen Insel in seltener lateinamerikanischer Einfachheit, ohne daß diese wie in manch anderen Ecken des Kontinents mit einer entsprechenden Sicherheitslage einherginge. Stattdessen ist die heile Welt Programm: Wer die schwarzweißgefleckten Kühe auf dem Bergrücken der hügeligen Inseln weiden sieht, wähnt sich unweigerlich auf einer alpinen Alm. 

Ein Eindruck, der schnell von den Palafitos in der Inselhauptstadt Castro wettgemacht wird: Die bunten Pfahlbautenhäuschen zaubern die Atmosphäre eines leicht verarmten Skandinaviens hervor, was die gestrandeten Schiffe und der dichte Nebel nur noch unterstreichen. Ins selbe Bild passen die 150 Holzkirchen in allen Himmelsfarben, welche die Jesuiten einst zu Missionierungszwecken auf der Insel gebaut hatten. Beinahe jedes kleine Dorf wird von einem der komplexen Zypressenholzbauten geziert,  die zumeist ohne einen einzigen Nagel zusammengesteckt sind und trotzdem den vielen Erdbeben der Region standzuhalten scheinen.  

Während die Eisenbahngleise, die Castro einst mit dem Inselnorden verbanden, mittlerweile erdbebenbedingt auf dem Meeresboden liegen, hält die älteste Holzkirche Chiles in Achao seit 1740 den seismographischen Schwingungen stand. An die vielen Tsunami-Warnschilder, die am Küstenstreifen vor der Iglesia Santa María de Loreto angebracht sind, scheint sich selbst das Meer zu halten: es wäre ihm wohl zu schade um Chiloé.