© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

„Ein Deutschland soll sein und bleiben!“
Aufbruch der Jugend: Vor 200 Jahren gründeten Studenten in Jena die Urburschenschaft / Ihr Ziel war die Einheit der deutschen Nation
Harald Lönnecker

Als der 1815 geborene Otto von Bismarck 1892 Jena besuchte, beehrte er auch die dortige, 1815 gegründete Burschenschaft. Auf ihren Willkommensgruß antwortete der Ex-Reichskanzler: „Ich wünsche der Burschenschaft ein fröhliches Gedeihen. Sie hat eine Vorahnung gehabt, doch zu früh. Schließlich haben Sie doch Recht bekommen!“ Was der Gegner von 1848 hier würdigte, war die Bestätigung des auf die deutsche Einheit gerichteten Wollens der Burschenschaft. Von Freiheit, zumal individueller, war nicht die Rede.

Antwort der Studenten auf die Zersplitterung

Die ab 1815 von Studenten gegründeten Burschenschaften waren die Avantgarde der deutschen Nationalbewegung. Sie wurzelten in den Freiheitskriegen, standen unter dem Einfluß von Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte, waren geprägt durch eine idealistische Volkstumslehre, christliche Erweckung und patriotische Freiheitsliebe. Diese antinapoleonische Nationalbewegung deutscher Studenten war eine politische Jugendbewegung – die erste in Europa – und die erste nationale Organisation des deutschen Bürgertums überhaupt, die 1817 mit dem Wartburgfest die erste gesamtdeutsche Feier ausrichtete. 

Auf dem Wartburgfest wurden die „Beschlüsse des 18. Oktober“ vorgestellt, die erste Formulierung der Grundrechte in Deutschland, deren Intentionen in Länderverfassungen, die Reichsverfassungen von 1848/49 und 1919 sowie in das Grundgesetz von 1949 einflossen. Sogar ein sozialpolitisches Postulat findet sich in den Beschlüssen: „Wir wollen uns der untersten Klassen der Gesellschaft umso lebendiger annehmen, je tiefer sie im Elend sind.“ Die Beschlüsse waren wichtiger Anstoß für einen deutschen Verfassungsstaat, Menschen- und Bürgerrechte werden formuliert, Glaubens- und Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Freizügigkeit und Eigentumsrecht, Meinungs- und Pressefreiheit, Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit, Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und ein einheitliches deutsches Gesetzbuch gefordert. Bei der Verbrennung „undeutscher“ Schriften auf dem Wartburgfest wurde aber auch die Ambivalenz burschenschaftlicher Forderungen deutlich: Verbrannt wurde als Zeichen französischer Fremd- und Willkürherrschaft der Code Napoléon, der jene unabhängigen Geschworenengerichte statuierte, die die Burschenschaften in ganz Deutschland forderten. 

Zugleich hieß es in den Beschlüssen: „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.“ Die Gründung der Burschenschaft war auch eine Antwort der Studenten auf den die Zersplitterung Deutschlands perpetuierenden Deutschen Bund, die Vorwegnahme der deutschen Einheit in einem zeitgenössisch oft so genannten „Studentenstaat“. Der 1818 gegründete Zusammenschluß der örtlichen Burschenschaften, die Allgemeine Deutsche Burschenschaft, war die erste nationale Organisation, die in Deutschland existierte. Hier entstanden die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold. Das „Lied der Deutschen“ dichtete der Bonner Burschenschafter Heinrich Hoffmann von Fallersleben, im Druck erschien es erstmals in einem burschenschaftlichen Liederbuch.

1819 nach der Ermordung August von Kotzebues durch den radikalen Burschenschafter Karl Ludwig Sand verboten, gingen die Burschenschaften mehr oder weniger in den Untergrund. In ihnen manifestierte sich das „Junge Deutschland“ – den Ausdruck prägte ein Burschenschafter –, aus den Reihen der Burschenschaften ging der erste Versuch einer politischen Partei in Deutschland, der Preß- und Vaterlandsverein, hervor; die Organisatoren und wichtigsten Redner des Hambacher Festes 1832, der ersten Freiheits- und Massenveranstaltung in der neueren deutschen Geschichte, waren Burschenschafter. Und als 1848 die deutsche Nationalversammlung zusammentrat, um Deutschlands Einheit und Freiheit festzuschreiben, stellten Burschenschafter dort die größte Gruppe. Der Präsident, Heinrich von Gagern, gehörte etwa der Jenaer Burschenschaft an. 

Der Einfluß der Burschenschaften auf das nationale Bewußtsein der Deutschen, ihren Einheits- und Freiheitswillen, ist überhaupt nicht hoch genug zu veranschlagen, vielfach haben die Burschenschaften es erst geschaffen: Die Mehrzahl der führenden Liberalen des Vormärz’ und weit darüber hinaus waren Burschenschafter, und in der Revolution von 1848/49 spielten die Burschenschaften eine wichtige Rolle. Für den Habitus des deutschen Akademikers war und blieb die Zugehörigkeit bis weit in unsere Zeit konstitutiv – noch heute wird jeder Student mit Band und Mütze vom Unkundigen meist als „Burschenschaftler“ apostrophiert.

Begründet lag die Wirkmächtigkeit der Burschenschaften im Status ihrer Angehörigen, der Wissen und Leistung kumulierenden künftigen Akademiker, der Elite in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Studenten leben weitgehend unter sich, fernab des Elternhauses, sie sind in ihrem Tun und Lassen ausgesprochen unabhängig und wegen ihrer vorrangig geistigen Beschäftigung wenig auf vorhandene Denkmodelle fixiert, ihr Sozialstatus ist instabil. Die mangelnde gesellschaftliche Integration führt zur weitgehenden Ablehnung von Kompromissen, in ihren politischen Ideen und Idealen neigen Studenten deshalb zum Rigorismus. Dies ist ein Charakteristikum aller Studentenbewegungen seit 1815, sei es 1848/49, der vereinsstudentischen Welle um 1880, der Freistudenten um 1900, des NS-Studentenbunds um 1930 und nicht zuletzt auch der studentischen 68er.

Aus dem Elitebewußtsein resultierte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das für eine Avantgarderolle unerläßliche Selbstbewußtsein. Damit einher ging eine anhaltende Überschätzung der eigenen Rolle, aber auch eine Seismographenfunktion gesellschaftlicher Veränderungen. Studentische Organisationen haben für die politische Kultur des bürgerlichen Deutschland von jeher eine Leitfunktion, spiegeln die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens und sind mit den Problemen der einzelnen politisch-gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen verzahnt. Schon der „Rembrandtdeutsche“ Julius Langbehn, selbst Mitglied der Burschenschaft Teutonia Kiel, gab dem Ausdruck in den Sätzen: „Die edelste Gesinnung des deutschen Studenten war von jeher ein Gradmesser für das Wollen des deutschen Volkes; jene sind noch unabhängig und durchweg gesund; sie wohnen gewissermaßen in einem windgeschützten Winkel des modernen Lebens, wo sie noch nicht vor die schlimme Wahl gestellt sind: entweder unterzugehen oder einen jahrzehntelangen, erbitterten Kampf um das materielle Dasein zu führen. Von hier kann darum neues Wachstum ausgehen.“

Die Burschenschaften entstanden nicht ad hoc, sondern wurzeln in einer Entwicklung, die im 18. Jahrhundert ihren Ausgang nahm. Student zu sein bedeutet die Möglichkeit der Zugehörigkeit zur Gruppe künftiger Entscheidungsträger. Burschenschafter zu sein vermehrt dies um das politische Element. Beiden innewohnend ist die korporative Struktur der Verbindung, die mehr beinhaltet als ein Verein, in den man jederzeit ein- oder austreten kann. Dem Nichtzugehörigen blieb etliches verschlossen, denn über die Zugehörigkeiten wird erkennbar, warum man sich später, als Akademiker nach dem Studium, an bestimmte Personen hielt und sich an sie als Ansprechpartner wandte. Dies besonders dann, wenn bestimmte Freundeskreise gesellschaftlich oder politisch wirkungsmächtig wurden. Es bildete sich ein Netzwerk der Kommunikation und Nahverhältnisse, in das viele einbezogen waren.

Deutlich wird das Beziehungsgeflecht einer bürgerlichen Elite, die durch gemeinsame edukative Sozialisation kulturell, zivilisatorisch und politisch geprägt ist, verflochten durch eine gemeinsame Zielvorgabe, einen ideologischen Gleichklang. Zur weiteren Verdichtung trugen gemeinsame Weltbilder, Interessen, Zukunftsentwürfe und identische Kommunikationsmuster bei sowie das Bewußtsein, das Moment der Geschichte auf seiner Seite zu haben. Das wirkte sich in einer erstaunlichen Bereitschaft aus, das persönliche Fortkommen zugunsten der politischen Betätigung zurückzustellen, langjährige Haftstrafen und sogar den Tod in Kauf zu nehmen, sei es in den nach dem Frankfurter Wachensturm 1833 einsetzenden verschärften „Dema-gogenverfolgungen“, sei es als Kämpfer im griechischen oder polnischen Befreiungskampf ab 1821 beziehungsweise 1830, sei es als Kriegsfreiwilliger gegen Dänemark oder Revolutionär 1848/49. Genannt sei nur Robert Blum.

Zurück ließ die Revolution enttäuschte und ernüchterte Burschenschaften, die sich neu zu orientieren suchten. Das zog eine Entwicklung nach sich, die unter dem Schlagwort „Realpolitik“ stand und in den späten 1860er Jahren in den Anschluß an Bismarck mündete, der, beherrscht vom Gedanken der Sicherung der innen- wie außenpolitischen Macht der preußischen Monarchie, den Weg der Einigung Deutschlands beschritt, dabei mit Hilfe von Diplomatie und Militär die bürgerliche nationale und liberale Bewegung überspielte und durch die kleindeutsche Lösung der nationalen Frage zugleich ihres wichtigsten Zieles beraubte. 

Entsprechend haben sich die Burschenschaften des Kaiserreichs gewandelt, waren sie andere als im Vormärz, zumal sie angesichts zunehmender Studentenzahlen und immer neuer Verbindungsgründungen in die Zange genommen wurden: durch eher kleinbürgerliche Vereine Deutscher Studenten von rechts, der Freistudentenbewegung von links, dazu mißtrauisch die rasant wachsenden Katholisch-Konfessionellen beäugend. Trotzdem blieben die Burschenschaften die größte Gruppe im organisierten Studententum. Der Erste Weltkrieg, in dem rund 3.500 Burschenschafter fielen, wirkte nicht nur radikalisierend, sondern brachte auch den burschenschaftlichen Einheitsverband, die Deutsche Burschenschaft, der um 1930 etwa 170 einzelne Burschenschaften angehörten.

Da den Burschenschaften Angehörige aller Fakultäten angehören, finden sich nicht nur Multiplikatoren wie evangelische Pfarrer und Lehrer in ihren Reihen, Ärzte und Juristen, sondern auch etliche Politiker, allein in den acht Politiker-Bänden des „Biographischen Lexikons der Deutschen Burschenschaft“ rund 5.500 Namen, darunter Reichskanzler, Minister und Abgeordnete, Bürgermeister und Landräte. In alphabetischer Reihenfolge und willkürlich ausgewählt wären etwa Franz Adickes zu nennen, Oberbürgermeister von Frankfurt am Main und Mitgründer der dortigen Universität, Victor Adler, Führer der österreichischen Sozialdemokratie, der SPD-Politiker Rudolf Breitscheid, Eduard David, der Präsident der Weimarer Nationalversammlung, Franz Dinghofer, sein österreichisches Pendant, Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus, der mehrfache bundesdeutsche Minister Hermann Höcherl – ebenso Wilhelm Niklas und Peter Ramsauer –, Karl Jarres, Hindenburgs Gegenkandidat bei der Reichspräsidentenwahl 1925,  die SPD-Mitgründer Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht, Otto Meißner, wichtiger Staatssekretär in den zwanziger und dreißiger Jahren, der US-amerikanische Innenminister Carl Schurz oder der Schweizer Bundespräsident Emil Welti. 

Burschenschafter zu sein war für Generationen von Akademikern normal und wesentlicher Bestandteil ihres Lebens und ihrer Persönlichkeit, der nicht überschätzt, keinesfalls aber auch unterschätzt werden sollte. Dabei war Burschenschaft auch stets Abbild der bürgerlichen Gesellschaft. Politisch, sozial, wissenschaftlich oder ökonomisch machten sich die Auswirkungen burschenschaftlichen Engagements bemerkbar, selbst über die Auflösung der Deutschen Burschenschaft und der Burschenschaften 1935/36 hinweg bis zur Wiedergründung 1949/50. 

Dabei waren sich die Burschenschaften durchaus auch der schwierigen Teile ihrer Vergangenheit bewußt, einer Vergangenheit, für die sie vor allem seit „1968“ beschimpft und geschmäht wurden in einer Form, die der von Kommunisten und Hitlerjugend der Zwischenkriegszeit überaus ähnlich war. Das unbedingte Festhalten an der deutschen Einheit durch die „Ewiggestrigen“ erwies sich 1989 als richtig, einzig der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen, Bernhard Vogel, gestand ein, die Burschenschaften hätten als unbequeme Mahner richtiggelegen, vor allem wenn sie die Beschlüsse von 1817 zitierten.

Der seit der Frühzeit geltende burschenschaftliche Wahlspruch „Ehre – Freiheit – Vaterland!“ schließt dies alles ein, bereits Ernst Moritz Arndt nannte die drei Worte die „wahren und unsterblichen Grundsätze“ der Burschenschaft. Ihre Deutung und Ausgestaltung ist und bleibt jedoch schwierig und muß immer wieder neu erfolgen. 

Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete und Burschenschafter Hugo Böttger faßte dies bei der burschenschaftlichen 100-Jahr-Feier 1915 in die Worte: „Die Zeit verändert alles, und was dem einen eben noch groß und erhaben, ist dem anderen hinfällig und gleich (...) Die ganze Zeit hat sich geändert, immer ging es voran und voran, aber geblieben ist uns unser Deutschland, etwas anderes haben wir nicht, dies ist unser erstes und letztes, ihm haben wir zu dienen nach unserem ganzen Vermögen und mit allen unseren Kräften. Dann können wir auch ferner über uns deutsche Burschenschafter sagen: Deutschland immer gedient zu haben ist unser höchstes Lob!“






PD Dr. Dr. Harald Lönnecker ist im Bundesarchiv in Koblenz tätig und für das Archiv der Deutschen Burschenschaft zuständig.

 www.burschenschaftsgeschichte.de


Urburschenschaft
Ehemalige Freiwillige der Befreiungskriege gegen Napoleon, die zum Studium nach Jena zurückgekehrt waren, hatten die Idee, den traditionellen Zusammenschluß der Studenten in Landsmannschaften (je nach Herkunft) aufzugeben und stattdessen eine allgemeine Verbindung zu gründen. Ende Mai 1815 beschloß der sogenannte „Senioren-Convent“ in Jena seine Auflösung. Kurz danach, am 12. Juni, senkten sich vor dem Gasthaus „Tanne“ die Fahnen der Landsmannschaften zum Zeichen ihres Aufgehens in der Burschenschaft. Dies galt auch als Symbol für das Streben der Studenten („Burschen“), die kleinstaatliche Zersplitterung Deutschlands zu überwinden. Nach dem Vorbild von Jena gründeten sich auch in vielen anderen deutschen Universitäten solche (Ur-)Burschenschaften, von denen die meisten zwei Jahre später, am 18. Oktober 1817, zum Wartburgfest zusammenkamen.

Harald Lönnecker (Hrsg.): „Deutschland immer gedient zu haben ist unser höchstes Lob!“ – Zweihundert Jahre Deutsche Burschenschaften. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015,  1240 S., 88 Euro