© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Das Zuchthaus blieb ihm erspart
Aus der DDR in die Bundesrepublik: Der Schriftsteller Gerhard Zwerenz wird neunzig
Jörg Bernhard Bilke

Als Ernst Bloch, Philosophieprofessor in Leipzig und Autor des dreibändigen Werks „Das Prinzip Hoffnung“ (1954/59), im Januar 1957 zwangsemeritiert worden war und die Karl-Marx-Universität nicht mehr betreten durfte, wurden seine Schüler gnadenlos verfolgt: Günter Zehm wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, Jürgen Teller der Universität verwiesen und „zur Bewährung in der Produktion“ in eine Leipziger Fabrik geschickt, wo ihm eine Maschine einen Arm abriß. Gerhard Zwerenz hielt sich einige Wochen bei seinen schlesischen Schwiegereltern in Dahme/Mark versteckt, von wo aus er die Leipziger Vorgänge beobachten konnte; im Sommer 1957 floh er nach West-Berlin.

Eigentlich hatte er, der 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Sachsen heimgekehrt war, alle biographischen Zutaten mitgebracht, um im 1949 gegründeten SED-Staat zu höchsten Positionen aufzusteigen: Am 3. Juni 1925 als Sohn eines Ziegeleiarbeiters und einer Textilarbeiterin geboren, entstammte er der „Arbeiterklasse“, hatte nach der Schulzeit eine Lehre als Kupferschmied begonnen, auch die Gesellenprüfung abgelegt. Daß er sich 1942 freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet hatte, wie fast alle seines Jahrgangs, war zwar ein dunkler Punkt seiner späteren „Kaderentwicklung“, wurde aber dadurch ausgeglichen, daß er 1944 bei Warschau zur Roten Armee übergelaufen und in Gefangenschaft „umerzogen“ worden war. Anders hätte er auch nicht, bevor er in Leipzig studierte, Dozent für Marxismus-Leninismus in Zwickau und Volkspolizist werden können.

Immerhin hatte er sich in dieser Zeit, als er irgendwann auf der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ sein Abitur nachholte, den frühen Erfahrungen mit der politischen Strafjustiz nicht verschlossen. In seinem Buch „Ärgernisse“ (1961) berichtete er später, wie die Sachbearbeiter der Zwickauer Kriminalpolizei „am Morgen genießerisch der vergangenen Nacht gedachten“, als sie, gemeinsam „mit den Genossen von der Roten Armee“, wahllos Verhaftungen vorgenommen hatten: ehemalige Nazis, völlig Unschuldige, „Wirtschaftsverbrecher“, die „wenigen wirklichen Widerständler, die Unglücklichen, die einmal ein Wort zu viel sagten, und endlich ganz einfach die Sozialdemokraten“.

Mit diesem Erfahrungshorizont ausgestattet, erlebte er den Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953, als er schon ein Jahr bei Ernst Bloch studierte. Er demonstrierte nicht mit, das hätte ihn seinen Studienplatz gekostet. Sein Freund Erich Loest (1926–2013) dagegen, der mit seinem Artikel „Elfenbeinturm und Rote Fahne“ (4. Juli 1953) eine kritische Bilanz des Aufstands gezogen hatte, bekam mächtigen Ärger mit der Partei und mußte „Selbstkritik“ üben. Jahre später hat Zwerenz in seinen beiden Romanen „Die Liebe der toten Männer“ (1959) und „Aufs Rad geflochten“ (1959) diese frühen Erlebnisse verarbeitet.

Bei Bloch lernte er, politisch zu denken

Die Begegnung mit Ernst Bloch und seiner Hoffnungsphilosophie war das tiefgreifende und umfassende Bildungserlebnis für das SED-Mitglied Gerhard Zwerenz, seine spätere Frau Ingrid Hoffmann und seine Freunde an der Karl-Marx-Universität im stalinistischen SED-Staat Walter Ulbrichts mit seinem Schmalspur-Marxismus. Noch sein letztes Buch „Sklavensprache und Revolte“ (2004) ist dem akademischen Lehrer, der von einer Vortragsreise in Bayern nach dem 13. August 1961 nicht nach Leipzig zurückgekehrt war, und seiner Ausstrahlung gewidmet.

Bei Bloch lernte er, politisch zu denken, zu widersprechen und Gegenpositionen zu entwickeln. 1956 begann er als freier Schriftsteller zu arbeiten. Seine in der Kulturbundzeitschrift Sonntag veröffentlichten Artikel wie „Leipziger Allerlei“ und das die Funktionäre aufschreckende Gedicht „Die Mutter der Freiheit heißt Revolution“ lassen die Denkschule Ernst Blochs durchaus erkennen. Aber dieses „Tauwetter“ war kurzlebig, nach dem Ungarn-Aufstand im Herbst 1956 wurde Wolfgang Harich verhaftet, Walter Janka und Gustav Just folgten 1957.

Heute lebt Gerhard Zwerenz im Taunus, in einem Eigenheim. In den ersten Jahren am Rhein ging es ihm nicht sonderlich gut, er wohnte mit Frau Ingrid in einem angemieteten Gartenhaus, südlich von Bonn gelegen, schrieb Zeitungsartikel und Romane, die nicht gelesen wurden, und hatte folglich nur magere Einkünfte, weil er sich nicht als Berufsantikommunist vereinnahmen lassen wollte. Als die SED-Zeitung Neues Deutschland davon erfuhr, erinnerte sie ihn hämisch an die verlassenen „Fleischtöpfe von Leipzig“.

Als ich Gerhard Zwerenz im Juli 1961 in Köln besuchte, schrieb er gerade für die Hamburger Illustrierte Stern eine Serie über Walter Ulbricht und die verheerende Wirkung des Kommunismus in Deutschland unter dem Titel „Des Kremls Kreatur. Die roten Kapitel der deutschen Geschichte“. Aber das Buch, das seinen Namen im Sommer 1961 schlagartig bekannt machen sollte, hieß „Ärgernisse“ und war eine Sammlung scharfsichtiger Beobachtungen eines DDR-Flüchtlings, der Erfahrungen mit beiden Nachkriegsstaaten in Deutschland gesammelt hatte.

Diesen neugewonnenen Standort, Schriftsteller der Bundesrepublik mit DDR-Vergangenheit und Kritiker westdeutscher Verhältnisse zu sein, konnte er nun zäh und zielstrebig ausbauen, obwohl sein Auftritt im Oktober 1959 bei der „Gruppe 47“ auf Schloß Elmau in Oberbayern ein glatter Mißerfolg gewesen war. Er wurde auch nicht noch einmal eingeladen, nachdem Fritz J. Raddatz und Hans Mayer den Verdacht geäußert hatten, er hätte vermutlich in Leipzig für die Staatssicherheit gearbeitet.

Der literarische Erfolg stellte sich dennoch ein: Der Erzählungsband „Heldengedenktag“ (1964) fand zustimmende Kritiken in überregionalen Zeitungen, und der dickleibige Roman „Casanova oder Der Kleine Herr in Krieg und Frieden“ (1966) über einen unangepaßten Mann in verschiedenen Gesellschaftssystemen wurde ein Verkaufserfolg. Auch seinen autobiographischen Bericht „Der Widerspruch“ (1974) registrierte die Literaturkritik anerkennend.

Je tiefer er sich freilich in die westdeutsche Kapitalismuskritik verstrickte, desto milder und versöhnlicher wurde seine Sicht auf DDR-Zustände, denen er 1957 mit knapper Not entronnen war. Wohlmeinende Freunde vermuteten damals, er schriebe wohl ganz anders über sein westdeutsches Exilland, wenn ihm nicht die sieben Zuchthausjahre Erich Loests erspart geblieben wären. Als zum Beispiel im Sommer 1976, als seine Mutter schwer erkrankt war, der DDR-Haftbefehl gegen ihn vorübergehend ausgesetzt wurde und er nach Crimmitschau einreisen durfte, schrieb er am 8. September 1976 in der Frankfurter Rundschau darüber. Er behauptete, was ein Hoffnungszeichen sein sollte, die SED-Funktionäre, mit denen er diskutiert habe, nähmen heute die Positionen linker SPD-Leute ein. Ich schrieb ihm einen Brief, widersprach und fragte, ob dadurch der Abriß der Berliner Mauer und die Einführung der Demokratie näher gerückt seien?

Für die SED-Nachfolger im Deutschen Bundestag

Nach dem Mauerfall 1989 und dem Untergang des SED-Staates sollte es noch schlimmer kommen. Jetzt meinte er, heftige Freundschaften mit Bernt Engelmann, dem Vorsitzenden des Verbands deutscher Schriftsteller 1977/83, mit Stasi-Generaloberst Markus Wolf, über den er 1975 den Roman „Die Quadriga des Mischa Wolf“ veröffentlicht hatte, und mit dem DDR-Schriftsteller Hermann Kant pflegen zu müssen. Engelmann und Kant waren „inoffizielle Mitarbeiter“ des Ministeriums, in dessen Auftrag Markus Wolf „Westagenten“ jagte. Und dann erfährt man noch, daß Zwerenz bis zum Mauerfall im „westdeutschen Exil“ von der Ost-Berliner Staatssicherheit observiert wurde.

Gerhard Zwerenz, von einstigen DDR-Schriftstellern wie Dieter Noll 1966 und Erik Neutsch 1973 als „Renegat“, als abgefallener Kommunist also, beschimpft, sieht sich selbst heute als „parteilosen Sozialisten“. Mit diesem Status saß er auch von 1994 bis 1998 für Gregor Gysis SED-Nachfolgepartei im Deutschen Bundestag und unterzeichnete 1997 die „Erfurter Erklärung“, ein Linksbündnis von SPD, Grünen und PDS zu gründen, was folgenlos blieb. 

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, wurde 1961 bei einem Besuch der Leipziger Buchmesse wegen DDR-kritischer Artikel in einer westdeutschen Studentenzeitung verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Von 1983 bis 2000 war er Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn

Foto: Gerhard Zwerenz (Archivfoto 1995): Aus der SED ausgeschlossen, nach West-Berlin geflohen, sieht er sich heute als parteiloser Sozialist